RE: Vorderdeck - 5

Sébastien lächelte zufrieden, Bueno schien langsam zu begreifen, was sie an ihm hatte. Manchmal hatte er den Eindruck, sie hielt ihn einfach nur für einen neureichen, jungen Schnösel. Innerlich grinste er. Damit hatte sie zwar nicht völlig unrecht, aber fair war es dennoch nicht. "De rien, de rien..." Er sah ihr zu, wie sie in ihr Buch kritzelte, und wollte gerade etwas sagen, als eine abrupte Vibration durch das Boot ging, und ein lautes Rattern die morgendliche Stille durchbrach. Offensichtlich waren sie bald startbereit.

Aus einem Augenwinkel sah er, wie Teo wieder vom Hinterdeck her auftauchte und anfing, das Boot vom Quai zu lösen. "Na sowas, es scheint tatsächlich loszugehen." Und dies obwohl ausser dem Macho-Girl weiterhin keine Spur von Crew aufgetaucht war. Seltsam. Er konzentierte sich wieder auf Bueno. "Weitere spontane Assoziationen? Mhh..." Er zog seine Stirn in Falten. "Das Rufen der Erde... könnte ein Geysir sein, die geben immer seltsame Geräusche von sich. Definitiv irgendeine Öffnung oder Spalte im Boden, die Töne von sich gibt." Er zuckte mit den Schultern. "Meine These ist: Das alles wird leichter, wenn wir erst mal vor Ort sind und eine Vorstellung haben, wie es dort aussieht." Er blickte rüber zu Teo, um zu sehen, wie weit sie schon gekommen war.

Das plötzliche Motorrattern ließ Dr. Bueno zusammenfahren, und beinahe hätte sie den Stift vor Schreck aus ihren Fingern gleiten lassen. "Ist das etwa das Schiff?", fragte sie entsetzt, auch wenn die Antwort offensichtlich war. Ja, reichte es denn nicht, dass es schon so aussah, als würde es jeden Moment in zwei oder mehr Teile zerfallen? Musste es jetzt auch noch so einen Krach machen? Oh, worauf hatte sie sich da nur eingelassen..
Sie kniff die Augen zusammen und sagte sich stumm das Kinderlied auf, das sie hergeführt hatte, nur um für einen Moment nicht an das Schiff und seinen Lärm denken zu müssen. Leider trug ihr der Wind dabei einen Hauch des Geruchs von Öl und Qualm in die Nase, den der Motor hinter der Kabine eifrig verteilte, und entnervt öffnte Dr. Bueno ihre Augen wieder. Sie hatte sich das ausgesucht. Sie musste da jetzt auch durch!
Nur gut, dass Lemaitre da war, um sie abzulenken, und dass sie ihr Buch hatte, um die Augen darauf geheftet zu halten. "Ihre These", sagte sie säuerlich ohne aufzublicken, "ist keinesfalls neu, sondern vielmehr der Grund dieser Expedition." Dennoch kritzelte sie seine Assoziationen nieder. Später musste sie sie auf ihre Liste übertragen. Wenn sie vor Ort standen, würden diese Assoziationen hoffentlich helfen, die richtige Wegmarke ausfindig zu machen.

Sébastien grinste und sah sich leicht übertrieben nach einer anderen Quelle für den Lärm um, nur um dann zu bestätigen. "Ehm ja, es sieht ganz danach aus. Aber nur die Ruhe, Senhora, die Geräusche bedeuten auch: das Schiff funktioniert immerhin." Er fragte sich allerdings schon ein bisschen, wie das erst mal wurde, wenn sie dann im Dschungel waren. Wenn Bueno bei jeder Kleinigkeit derart nervös wurde, dann stand ihnen ein ziemlicher anstrengender Trip bevor - und zwar zusätzlich zu den Herausforderungen, die sie eh schon zu meistern haben würden.

Ein wenig nämlich beschäftigte ihn noch immer, dass sie wirklich nicht mehr zu wissen schienen als das. Eigentlich hatte er erwartet, dass Bueno und Williams schon weiter waren bei der Entschlüsselung von Wegmarken und Zeichen. Der Franzose nickte, blickte sich verstohlen um und vergewisserte sich, dass ihnen wirklich niemand zuhörte gerade. "Das ist wirklich alles, was wir wissen?" wollte er dann leise von Bueno wissen. "Ich meine, wirklich alles?" Er hatte sich die Karten des Gebiets im Vorfeld angesehen, es war riesig. Gut möglich, dass sie monatelang nur wenige Meter neben dem Tempel herumirren würden, nur weil sie eine Wegmarke nicht richtig entschlüsselt hatten...

Dr. Bueno runzelte die Stirn. Ihr kam es ja fast vor, als wollte dieser junge Student sich über sie lustig machen! Aber würde er es das wirklich wagen? Noch nichts Eigenes geleistet, aber schon am Stuhl des nächsten sägen?
"Wie meinen Sie das: wirklich alles?" Skeptisch hob sie ihre Brauen. "Hatte Schliemann etwa mehr Informationen, ehe er damit begann, Troja auszugraben? Nein! Er hatte nur die Schilderungen eines Epos. Wir haben die Wegbeschreibung eines Liedes." Gut, es war ein Kinderlied; ihre Mutter hatte es ihr immer zum Einschlafen vorgesungen, und als sie dann vor einigen Jahren über den Text gestolpert war, hatte irgendetwas in ihr 'Klick' gemacht.
"Das ist alles, was wir brauchen, Senor Lemaitre." Sie zögerte einen winzigen Moment, ehe sie eisig hinzufügte: "Und ich würde es begrüßen, wenn Sie mich mit Dr. Bueno ansprächen."

Schliemann? Nicht gerade das beste Beispiel, wie Sébastien fand. "Mag sein, aber er hat auch fast zehn Jahre gebraucht von seiner ersten Reise ins Gebiet bis er sicher war, Troja gefunden zu haben..." Jedenfalls wenn er sich richtig erinnerte. Schliemann gehörte natürlich zum Standardwissen jedes Archäologiestudenten. Jedenfalls war es nicht gerade das, was er sich jetzt hier für diesen Trip vorstellte. Okay, er wusste, Archäologen brauchten Geduld und Zeit, aber er hatte nicht vor, seine besten Jahre hier im Dschungel zu verbringen. "Und ich stand unter dem Eindruck, dass wir... alors... schon ein bisschen weiter wären in der Interpretation."

Buenos Aufforderung, sie mit Doktor anzusprechen, quittierte er mit einem schiefen Grinsen. "Vraiment? Ich glaube, dann wird dieser Trip hier noch ein bisschen anstrengender werden für Sie..." Wäre das hier eine US-zentrierte Expedition wären sie sogar alle auf first-name-Basis, gerade deshalb bevorzugte er die USA auch gegenüber Frankreich, wo alles sehr viel formeller zu und her ging. Das hier war irgendwas in der Mitte, und mehr als ein Senhora würde sie von ihm nicht kriegen.

Säuerlich rümpfte Dr. Bueno die Nase und sah Lemaitre mit einem Blick an, den sie normalerweise für Laufmaschen in ihren Strumpfhosen oder Mücken, die es durch die Insektengitter geschafft hatte, reservierte. "Sie haben es wohl eilig mit dem Ruhm." Weder hatte sie vor, zehn Jahre mit dieser Suche zu verbringen, noch ging sie davon aus, dass es nötig sein würde, aber Archäologie brauchte halt ihre Zeit!
Sie schlug ihr Reisetagebuch zu, verschränkte die Hände darüber und blickte zur Reling, hinter der sich die Bucht erstreckte. "Aber falls es Sie beruhigt: Wenn meine Theorie über die verborgenen Koordinaten stimmt", sie selbst zweifelte daran kein bisschen, "kennen wir das ungefähre Gebiet, in dem wir nach den Landmarken suchen müssen, und auch die Himmelrichtungen, in die wir müssen. Sie werden dort schon nicht alt."

Hm, offenbar hatte die Senorita sie nicht gehört. Teo seufzte. Es waren solche Momente, an denen sie sich wünschte, dauernd einen Schiffsjungen zur Hand zu haben. Ihr Bruder verdiente sich zwar manchmal ein Taschengeld dazu, aber zum einen teilte er ihre Liebe zur Schifferei nicht, sondern ging anderen Hobbys an Land an, und zum anderen bockte er bisweilen, statt die Anweisungen seiner großen Schwester entgegenzunehmen. Tja, selbst war die Frau.
Teo zuckte mit den Achseln und machte sich erst einmal daran, die Gangway einzuholen. Als diese klappernd gegen die Reling gelehnt stand, hüpfte sie an Land und begann, die Leinen zu lösen. Colin würde die Caminante schon keinen Schnellstart hinlegen lassen und sie auf dem Pier zurücklassen. Hoffentlich.

Mit halbem Auge verfolgte Sébastien Teos Bemühungen, das Schiff zum Ablegen zu bringen. Machte sie eigentlich alles alleine hier an Bord? Vermutlich war sie auch Steuermann..., pardon, -frau und Kapitän! Eine Frau für alle Fälle, dachte er noch, ganz im Gegensatz zu Bueno. Sein Grinsen blieb auf dem Gesicht. "Naturellement, je schneller desto besser. Früher Ruhm ist der wirksamste..." Er öffnete Tür und Tor für andere Dinge, und schliesslich galt es nicht zuletzt seinem Vater zu beweisen, dass auch er durchaus zu etwas fähig war, das profitabel und erfolgreich war.

"Dann hoffe ich wirklich sehr, dass Ihre Theorie stimmt, Senhora." Auch wenn er sich über sein Alter noch keine grossen Sorgen zu machen brauchte. Nächstes Jahr wurde er 30, für viele seiner Freunde war das ein Schritt, dem sie mit Sorge entgegen sahen. Nicht so Sébastien, er mochte, was er tat und fühlte sich wohl in seiner Haut. Was natürlich auch daran lag, dass er heute nicht weniger blendend aussah als mit 21. Wenn nur die hässlichen Flecken auf seiner Hose nicht wären, die er sich vorhin geholt hatte, als er Teo behilflich gewesen war. Reflexartig wanderte sein Blick erneut zu ihr und tastete sich wohlwollend über ihren straffen Körper, der gerade in vollem Einsatz war.

"Doktor", verbesserte sie ihn verbissen, auch wenn es ihr langsam dämmerte, dass er wirklich keinesfalls davon abrücken wollte, sie mit so einem pauschalen 'Senora' abzuhandeln. Da hieß es immer, die Franzosen seien so höflich..
Sie wollte ihm einen strafenden Blick senden, doch er schien abgelenkt. Dr. Bueno runzelte die Stirn und folgte seinem Blick. Ob er jemandem auf dem Pier gesehen hatte? Oder fürchtete, dort etwas vergessen zu haben? Oder... Dr. Buenos Lider flatternte, als sie die Augen verdrehte. Das durfte doch nicht wahr sein. Höflich wie ein Stück Brot trotz all seinem Getue, aber frauentechnisch erfüllte er das Klischee mit Begeisterung.
"Es dürfte mit Ihrem Ruhm sicher besser klappen, Senor Lemaitre", fuhr sie schnippisch fort und rückte ein wenig von dem Studenten ab, "wenn Sie sich auf die wesentlichen Dinge konzentrieren."

Sébastien unterdrückte ein Grinsen, als Bueno auf ihrem dämlichen Titel beharrte. Wie wenn es so schwierig war, einen Doktortitel zu bekommen! Und falls es ihr um Respekt ging... nun, den konnte sie bekommen, wenn sie diese Expedition erfolgreich zum Tempel führte. Und sich nicht so schwierig benahm bis dahin. Leider bestand zumindest für letzteres wohl wenig Aussicht.

Er war auch nicht sonderlich peinlich berührt, dass sie ihn bei seinem Blick ertappt hatte. Warum sollte er? Sein Blick wanderte von Teo zurück zu Bueno, die wieder etwas mehr Abstand genommen hatte, und ihn ansah als sei er ein Forschungsobjekt, das sich daneben benommen hatte. "Ich bin ein grosser Anhänger des Multitasking, Senhora", erklärte er dann. "Ich kann das eine tun, und muss das andere nicht lassen." Er lächelte. "Und gerade im Moment, scheint es mir wesentlich wichtiger, dass wir hier erfolgreich ablegen, weil wir die Interpretation all jener merkwürdigen Rätsel ohnehin erst dann vornehmen können, wenn wir vor Ort sind." Er zuckte mit den Schultern. "Alors..." Sein Blick wanderte wieder zu Teo und beobachtete ihre Fortschritte.

Neunmalkluge Studenten - gab es irgendetwas Anstrengenderes auf der Welt? Mechanisch zerschlug sie eine Steckmücke, die es sich auf ihrem Unterarm bequem gemacht hatte, und der Schmerz, den sie dabei auf ihrer Haut spürte, verriet ihr, dass sie wohl doch gerade zorniger war, als sie nach außen hin zugeben wollte.
"Wenn Sie Ihre Prioritäten so klar ermittelt haben, würde die Logik empfehlen, dass Sie auch gemäß Ihren Prioritäten handeln." Sie lächelte schmal. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir rascher ablegen, wenn Sie die Senorita nur mit Ihren Blicken unterstützen."

Die harten Fasern der Taue konnten der Hornhaut in Teos Handflächen nichts mehr anhaben, und ein Tau nach dem nächsten flog vom Pier über die Reling an Deck, wo es mit einem satten Geräusch aufs Deck klatschte. Ohne viel Federlesen eilte sie zum nächsten, lockerte den Knoten, bis sie die Schlinge abziehen konnte. Hoffentlich stand keiner ihrer Passagiere im Weg, wenn sie das Ding jetzt zurückwarf! Peitschende Taue konnten gemeine Wunden reißen - ob sie allerdings die Kraft aufbrachte, die dazu nötig waren, die Taue zum Peitschen zu bringen.. Teo lachte leise. Nun, das bezweifelte sie ja nun doch.
Als das letzte Tau in ihren Händen war, dümpelte die Caminante schon deutlich ein Stück vom Pier entfernt, und Teo nahm ein, zwei Schritte Anlauf, ehe sie in einem hohen Bogen Richtung Deck sprang.
"Lass gehen, Colin!", brüllte sie gegen das Knattern des Motors und das Kreischen der Möwen in Richtung Kabine. "Sie ist frei!"

Der Franzose verzog das Gesicht. Die arme Mücke hat all das abbekommen, was sich an Frust und Ärger in Bueno aufgestaut hatte, seit sie heute Morgen am Pier angekommen war. Aber als sie dann sprach, musste Sébastien ihr für einmal recht geben. "Guter Punkt!" Er nickte anerkennend und sprang auf. "A bientôt", verabschiedete er sich und ging rüber zur Reling, wo sich Teo mit dem Ablegen abmühte.

"Hab' ich Ihnen nicht angeboten, Sie sollen sich melden, wenn Sie wieder einen starken Mann brauchen?" Er lächelte sein charmantestes Lächeln, stellte sich breitbeinig hin und wartete auf ihre Anweisungen. Und das Gute: Seine Hose war eh schon dreckig. Wenn das hier erledigt war, konnte er sich umziehen gehen.

Teo rieb sich gerade die Hände nach getaner Arbeit an der Hose ab, und daher lachte sie auf Sébastiens Angebot hin laut los. "Das nenne ich ein großartiges Timing", sagte sie vergnügt, stemmte die Hände in die Seiten und spie lässig ihr Kaugummi ins Hafenbecken.
Das Rattern des Motors, das zuvor schon hör- und auf den Planken des Decks spürbar gewesen war, drehte nun erst so richtig auf - die Caminante fluchte herzhaft darüber, dass man ihr in ihrem Alter schon wieder eine Fahrt abverlangte.
"Aber es ehrt.." Teo zögerte. Er war ein Passagier, ein gut zahlender noch dazu, aber andererseits - wie alt konnte er schon sein? Ach, sie ließ es einfach mal drauf ankommen, auch wenn er als Mensch mit Akzent sicher eher wie ein Städter dachte. "..es ehrt dich", fuhr sie vor, "dass du überhaupt deine Hilfe anbietest. Wenn auch zu spät." Sie zwinkerte ihm zu und deutete mit dem Kinn auf ihn. "Zeig mal deine Hände."

Oha, da war er wohl knapp zu spät gekommen und konnte nun nicht mehr seine rauhe Männlichkeit unter Beweis stellen. Aber dass die Crew ihn nun duzte, war eine erfreuliche Entwicklung, alles in allem. Sie war schon ziemlich cool, das musste man ihr lassen. Der Schiffsmotor ratterte wenig vertrauenserweckend, aber es liess sich dennoch nicht leugnen, dass sie sich nun tatsächlich auf den Weg gemacht hatten - das Abenteuer hatte begonnen! Er warf einen raschen Blick zu den anderen, bevor Teo seine Aufmerksamkeit wieder in Anspruch nahm.

"Absolument", erklärte er und fand, sie hatte völlig recht damit, dass ihn das ehrte. Schliesslich könnte er auch einfach rumsitzen oder -stehen wie die anderen... Dann fragte sie nach seinen Händen. Reflexartig hob er sie, sah sie an, sah Teo an, wischte sie sich an seinen Hosen ab und streckte sie ihr dann hin, gespannt was sie nun damit vorhatte.