RE: Vorderdeck - 3

Er kam der Sache näher? Sébastiens Mundwinkel zuckten amüsiert. Da hatte er also quasi mitten im Dschungel dieses seltsamen Landes ein Mädchen gefunden, das Zweideutigkeiten genauso zu schätzen wusste wie ein echter Franzose, parbleu! Und das keine 12 Stunden nach der Ankunft.

Doch der Körperkontakt, der diese Zweideutigkeit erst möglich machte, ging schnell zu Ende, nachdem er sie wieder hochgezogen hatte. Kurz noch fasste sie ihn bei der Hand, um sich wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Derweil sie mit sich selbst beschäftigt war, liess der Student seine Augen nochmals wohlwollend über ihre Vorderseite gleiten. Beinahe bedauerte er es ein wenig, dass die Fahrt auf diesem wenig seetüchtig wirkenden Kutter nur so kurz war. Das liess wirklich kaum Spielraum, Teo noch ein bisschen näher kennenzulernen. "De rien", antwortete er lächelnd und lehnte sich entspannt gegen die Aufbaute, während Teo weiter fragte. Wieder glitt sein Blick über die dunklen Flecken auf den Khakis, gut dass er ein paar Ersatzhosen dabei hatte.

Dann allerdings funkelten seine Augen amüsiert, als sie darlegte, weshalb sie so neugierig war. Reis, Bier und Hühner, kein Wunder, dass der Kahn so aussah wie er aussah. Da hatte Williams ja eine bemerkenswerte Transportwahl getroffen. Gut, vielleicht gab es nicht viel anderes. "Es ehrt mich, dass Sie uns für interessanter halten als ein paar Hühner. Die meisten Menschen empfinden Archäologie als furchtbar langweilig." Geistesabwesend klopfte er mit seiner Hand die Flecken auf den Hosen ab. "Und nicht ganz zu Unrecht: Es ist viel Recherche, viel Kleinarbeit, und meist findet man nicht viel mehr als ein paar Steine oder Knochen. Und oft auch gar nichts." Das Risiko bestand selbstverständlich auch hier, aber die Hoffnung war gross, dass es nicht so sein würde. Sie hatten die Expedition wirklich lange und gut vorbereitet. "Das grösste Abenteuer dabei ist meist, wenn man von hübschen Mädchen als Abenteurer bewundert wird", erklärte er mit einem schiefen Grinsen.

"Ich will mal sehr hoffen, dass Sie nicht so eine Art von Abenteurer sind", erwiderte Teo launig, während sie Sébastien von der Seite her ansah. "Da können Sie zwar auch fruchtlos suchen, aber es wäre nicht halb so aufregend wie die andere Sorte."
Allerdings würde er ihr dann weniger Kopfzerbrechen bereiten. Mit so einer Art von Abenteurern kam sie ganz prima zurecht.
"Wobei Ihre Beschreibung jetzt klingt, als könnten Sie doch ein Huhn sein. Ein blindes, das auch mal ein Korn findet nämlich." Sie lachte laut auf und stieß sich von der Aufbaut wieder ab. Es brachte ja nichts, hier herumzustehen; die Reisetasche von Senora Bueno musste ja noch rein. "Nach was genau picken Sie eigentlich im Dschungel? Also, wie sieht so ein Ursprung einer Inkakultur denn aus?" Neugierig hielt sie ihren Blick auf Sébastiens Gesicht gerichtet, während sie blind nach der Reisetasche tastete, die Griffe packte und sie hochwuchtete.

"Eh bien..." Sébastien machte eine wegwerfende Geste, die weder Ja noch Nein hiess, auf dass ihr Spielchen weiterhin im Vagen blieb und sich noch weiter fortsetzen liess. "Es ist durchaus nicht immer fruchtlos und unaufregend", fügte er dann noch an, einfach um klarzumachen, dass er solchen Dingen durchaus nicht abgeneigt war.

Er stimmte sogleich in ihr helles, offenes Lachen ein, als sie die Idee mit dem Huhn weiterspann. "Möglicherweise wäre der... wie sagt man... ah, Maulwurf, besser als Bild für das, was wir tun." Sébastien lächelte. "Und blind ist der immerhin auch." Er sah ihr zu, wie sie sich ans Werk machte, Buenos Tasche zu verstauen, warf dabei einen Blick rüber zu ihr und stellte fest, dass sie noch immer am gleichen Ort sass und nicht wesentlich besser gelaunt wirkte als vorhin. Dann wendete er seine Aufmerksamkeit wieder Teo zu, die neugierig weiter fragte. "Oh, das kann sehr unterschiedlich sein. Am leichtesten zu finden sind meist ihre Tempelanlagen, weil sie die aus Stein gebaut haben - da bestehen die grössten Chancen, das noch was Erkennbares übrig ist."

Er packte ebenfalls zu und half ihr Buenos Tasche hochzuwuchten. Was hatte die Frau um Gottes Willen alles eingepackt? "Das Problem ist: Wenn man nur ein paar Meter neben dem Tempel anfängt zu graben, findet man ihn möglicherweise nie. Aber wir haben ein paar Hinweise und Anhaltspunkte... und sind guter Dinge, dass wir den richtigen Ort finden." Und in seiner Stimme klang ein wenig von dem Enthusiasmus durch, den er für diese Expedition verspürte, auch wenn es mitnichten um Inkas ging.

"Blind, und noch dazu ein großer Baggerer." Teo nickte ernsthaft, während ihre Augen amüsiert funkelten. Bei aller Sorge - dieses kleine unauffällige Verhör machte sogar Spaß. Sie musste nur aufpassen, dass sie ihr Ziel nicht aus den Augen verlor und sich statt auf den Tempel zu sehr auf die Flirterei verlegte. "Ja, ein Maulwurf scheint mir doch wirklich passender."

Sie erwog kurz, ihm zu sagen, dass sie auch ganz gut allein mit der Tasche zurechtkam, aber das Ding war sauschwer, sodass sie auf Ziegelsteine oder Bücher tippte, und spätestens beim Herablassen würde es nicht schaden, wenn er noch einmal als Gegengewicht fungierte. Sie musste zwar dieses Mal nicht so tief runter wie zuvor, aber wie war es dem Jaguar bei den vier kleinen Geißlein ergangen, als er sich mit dem Bauch voller Flusssteine in den Brunnen beugte? Eben. Sie hatte keine Lust, sich den Hals zu brechen. Also beschränkte sie sich auf ein dankbares Lächeln und eine gnädige Position ihrer Hände, die es ihm erlauben würde, sie ganz 'zufällig' zu streichen.

"Uh, Hinweise klingen spannend. Sie haben also sowas wie ein Schatzkarte, ja?" Sie atmete kurz schnaufend durch, als die Tasche auf der Aufbaut ruhte, und schob sich so, dass sie vor der Tasche stand und Sébastien sich nur wenig bewegen musste, um hinter ihr zu stehen. "Genau wie bei einem Piraten? Oh, sowas würde ich zugern einmal sehen? Zeigen Sie sie mir, Senor?", plapperte sie eifrig und umfasste die Griffe der Tasche fester, ehe sie vielsagend zu ihrem Gürtel hinabsah. "Noch einmal anfassen, Senor?" Unschuldig klimperte sie mit den Wimpern.

"Ungefähr zwei Stunden. 'Nehmen die Sightseeing-Route an der Küste entlang. Dann ist die Gefahr kleiner auf einen Eisberg zu laufen."

Bei seinen letzten Worten schielte er hinüber zu Mercedes, die mittlerweile hilfe bei ihrem Gepäckproblem bekommen hatte. Ihm war alles andere als bewusst gewesen, dass sie Probleme mit Küstenschiffahrt hatte. Aber irgendwie spielte das jetzt gerade keine Rolle, Raymond war wirklich guter Dinge, dass von jetzt an alles wie am Schnürchen klappen würde.

Sie würden diesesmal wirklich Geschichte schreiben.

Die Unterhaltung von Sébastien und dem Schiffsmädchen zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, da die beiden nicht weit entfernt standen - bis eben hatte die Blonde sogar noch in der Gepäckluke gehangen. Als Amber bemerkte, dass sie starrte, schaute sie stattdessen wieder zu ihrem Vater zurück. "Zwei Stunden Sightseeing?" Na wunderbar. "Klingt aufregend." Und schaukelig... und wohin soll ich eigentlich mit dem leeren Kaffeebecher? Sie überlegte, ob sie ihn ins Hafenbecken werfen sollte, entschied sich aber dagegen. Obwohl... war doch nur Pappe. Aber ihr Dad würde das sicher nicht lustig finden. Die einzige Person der Crew zu stören und nach einem Mülleimer zu fragen wär jetzt gerade aber zu gemein. Oder? Die schien sich nämlich sehr gut zu unterhalten. "Und wann gehts los?" Sie erhöhte die Lautstärke etwas, als sie sprach, damit die 'CREW' die Frage auch hören konnte, obwohl sie eigentlich an ihren Vater gerichtet war.

"Wenn alle ihr Gepäck losgeworden sind und dieser Steuermann hier auftaucht, nehme ich an." Sagte er ähnlich laut.
Es war ja nicht so, dass er nicht auch ungeduldig wäre, doch die Ungeduld bezog sich eher auf einen noch ferneren Zeitpunkt nämlich den, wenn der Weg durch den Dschungel beginnen würde.
Wobei ... aprospos Gepäck, vorher sollte er statt sich entspannt an der Reling zu unterhalten kontrollieren, ob sein Gepäck, sprich die eigentliche technische Ausrüstung für die Expedition bereits sicher verstaut war und nicht dem gleichen schwarzen Loch zum Opfer gefallen war wie der Kapitän dieses Schiffes.

Suchend schwenkte er den Kopf bis sein Augenmerk auf der Klappe zum Stauraum hängen blieb, an der sich Sebastien und Teo gerade zu schaffen machten. Die beiden schienen sich blendend zu unterhalten. Was Dr. Bueno an Ernsthaftigkeit zuviel hatte, hatte Sebastien eindeutig zu wenig. Sich den jungen Mann mit einem Pinsel im Sand vorzustellen, fiel Raymond schwer. Doch da dessen Familie die wesentlichen Geldgeber für diese Reise waren, standen dessen Qualifikationen weniger in Frage als sie es sonst täten.
Tatsache war, dass Ray ein Auge drauf haben würde, wie sich der Franzose machte.

"Wenn's noch lange dauert, gehe ich nochmal von Board. Ich habe vorhin versucht in Potsdam anzurufen. Aber ich hatte morgens keine Verbindung. Nicht weiter ungewöhnlich hier draußen. Die Leitungen sind wetterfühlig."
Hm. Wetterfühlig war nicht, was der Mann in der Minipost gesagt hatte. Richten sich nach dem Mond, war es gewesen. Das klang sehr viel poetischer als wetterfühlig.

Na das konnte sich dann ja nur noch um Stunden handeln... "Du hast also noch Hoffnung, dass dieser ominöse Steuermann tatsächlich existiert?" Amber war wieder auf normale Gesprächslautstärke zurückgekehrt und schaute ihren Vater skeptisch an. Bisher bestand die Crew nur aus einer jungen Frau in Flirtlaune. Sie blickte nochmal zu Sébastien hinüber, doch es schienen noch immer nicht alle Taschen verstaut zu sein. Dass da überhaupt noch was in die Luke hineinpasste, erschien ihr eh schon wie ein Wunder.

Sie verfiel wieder ins Beobachten und spielte dabei mit dem leeren Kaffeebecher in ihrer Hand. "Oh, wolltest du Mom anrufen und ihr deine aktuelle Position nennen?" Sie grinste. Da hätte sie eigentlich auch dran denken können, aber sie wusste noch nicht mal genau, wie spät es in Potsdam jetzt gerade eigentlich war. "Wie spät ist es bei ihr denn jetzt?" Sie war schon irgendwie beeindruckt, dass die hier überhaupt Telefonleitungen hatten - ob sie nun wetterfühlig waren oder was auch immer. Irgendeinen Haken musste es ja haben. Wahrscheinlich hatte das Telefon noch so ne antike Kurbel und eine Wählscheibe.

Andächtig nickend, riss Ray den Blick wieder von Sebastien und Teo los und sah Amber an.
Sie hatte so viel von ihrer Mutter, fand er. Viel mehr von ihr als von ihm. Wobei seine Frau das meist genau andersherum sagte. Kurzum, er war verdammt stolz auf sie.
"Ich bin da absolut zuversichtlich."

Rays Uhr verriet ihm zwar nicht den Zeitversatz nach Potsdam, aber er warf bei Ambers Frage völlig automatisch ein Blick drauf. "Sieben Stunden später. Vorhin hätte sie Mittagspause gehabt." Die sie nie machte ... Er tippte gegen Ambers leeren Becher. "Und jetzt trinkt sie vielleicht Kaffee."

Die Trefferquote, wenn es ums Kaffeetrinken ging, war bei ihr so oder so unproportional hoch gegenüber der Esswahrscheinlichkeit.

Absolut zuversichtlich also... Na wenigstens einer. Sie grinste weiterhin, irgendwie war die Reise bisher sogar ziemlich lustig. Gut, sie lagen noch im Hafen - also das Geschaukel hielt sich in Grenzen - und sie waren noch mehr oder weniger in der Zivilisation. Aber wenn sich die Grundstimmung so hielt, würde das Ganze gar nicht so schlimm werden. Außerdem war sie mit ihrem Dad zusammen. Er als Forscher, sie mit ihrer Mutter immer mal abwechselnd in der Stadt, dann in der anderen... Richtiges Familienleben war bei ihnen nie an der Tagesordnung gewesen. Meist hatte Amber nur mit ihrer Mutter zusammengelebt und ihr Vater war eher ein Gast, wenn er mal zuhause war. Sie genoss es, nun einige Wochen mit ihm verbringen zu können. Schade fand sie nur, dass ihre Mutter nicht auch dabei war. Dann könnten sie seit langem endlich mal wieder richtig 'Familie spielen'. "Sieben Stunden voraus? Ich sollte mir das merken." Sie machte sich eine innere Notiz und hoffte, das heute Abend nicht schonwieder vergessen zu haben. "Wir haben doch bestimmt ein Satellitentelefon dabei, oder? Dann kannst du sie ja auch später noch aus dem Dschungel anrufen." Als eine Art 'vor-Ort-Berichterstattung'.

Sébastien lachte auf, als Teo das Maulwurf-Bild freudig übernahm und gleich damit weiterspielte. Wirklich schade, dass die Fahrt nur eine Stunde dauerte. Naja, zwei, wenn sie sich die Küstenlinie dabei gut ansahen, und dafür hatten Williams und Bueno sich ja entschieden. Kurz darauf manövrierte Teo sich beim Versuch, Buenos Tasche zu platzieren, wieder in eine Position, die Sébastiens Unterstützung erneut nötig machte. Und es kam ihm so vor, wie wenn sie es ein bisschen darauf anlegte. Dass sie bei all dem beobachtet wurden, fiel ihm nicht weiter auf.

Er liess sich die Gelegenheit, sie beiläufig zu streifen natürlich nicht entgehen und packte sie bereitwillig noch einmal am Gürtel, damit sie die Tasche dort unten versenken konnte. Die Tasche mit all den Büchern und Plänen... Als er ihr wieder hoch geholfen hatte, lächelte er milde. "Nicht ganz wie bei den Piraten. Ausserdem: Die grossen Planer stehen da drüben." Er machte eine Kopfbewegung Richtung Williams und Bueno. "Ich bin hier leider nur ein ganz kleiner Fisch... pardon, Maulwurf." Dann bewegte er sich mit seinen Lippen ganz nahe an ihr Ohr. "Aber wer weiss, vielleicht ergibt sich später eine Gelegenheit... für die Schatzkarten." Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu, richtete sich wieder auf und fing dabei einen Blick seiner Mitpassagiere auf. Wurde wohl Zeit, dass er sich ihnen wieder zuwendete.

Entschuldigend sah er Teo an. "Die Pflicht ruft, fürchte ich. Aber zögern Sie nicht, wenn Sie nochmals einen starken Mann brauchen." Er grinste, bewegte sich rüber zu den anderen und setzte sich schliesslich neben Bueno auf die Bank. Er unterdrückte den Impuls ihr zu sagen, dass sie schon jetzt ein bisschen seekrank aussah, käme vermutlich nicht besonders gut an.

Erleichtert ließ Teo die Griffe der Tasche los. So. Das Ding saß, wackelte und hatte Luft. Perfekt. Wobei es eigentlich schade war, denn eigentlich endete damit auch das kleine Spiel zwischen ihrem Gürtelhalter und ihr. Andererseits könnte sie sich gut vorstellen, dass er sich auch unter anderen Umständen noch einmal zu einem kleinen Schwatz überreden ließ - und die anderen Passagiere hatten ja auch schon gemurrt, wann es denn losginge.
Ächzend richtete Teo sich mit Lemaitres Hilfe wieder auf und rieb sich die Hände, während sie sich zu ihm umdrehte. Ihre Lippen schoben sich beinahe schmollend vor; entweder wusste Sébastien nichts, oder er ließ es sich noch nicht aus der Nase ziehen. Aber gut riechen tat er, wie sie bemerkte, als er ihrem Ohr immer näher kam.. Okay, jetzt nicht fickerig machen lassen! Aufs Ziel fokussieren und Kurs halten!
"Lassen Sie sich bis dahin nicht in die Karten schauen, Senor, sonst gehen sie noch kaputt", murmelte sie halblaut, während sie sein Zwinkern mit einem dunklen Lächeln begegnete. Pah, das war jetzt keine gute Antwort gewesen, da ging doch wesentlich mehr normalerweise. Sie hatte sich doch nervös machen lassen!
Sie atmete tief durch, als er sich entfernte, wobei sie nicht wirklich verstohlen seine Rückseite musterte. "Wieso, kennen Sie einen?", rief sie ihm fröhlich hinterher und war mit dieser Erwiderung schon bedeutend zufriedener. Rasch drehte sie sich um, ließ den Deckel der Ladeluke herunter und schob einen kleinen Riegel vor. Jetzt aber rasch sehen, was diese Senorita hinter am Deck anstellte! Und auf dem Weg könnte sie ja mal gegen die Kajüte klopfen, damit Colin so langsam in die Hufe kam..

tbc: Heck

Wenn sie sich auf die Buchstaben konzentrierte, die sie selbst mit ihrer akkuraten Handschrift in ihr Reisetagebuch gezeichnet hatte, gelang es ihr tatsächlich, das Geschaukel, die wenige Zentimeter Rost zwischen ihr und dem Hafenbecken und den Geruch von Möwenexkrement, Salzwasser und einem Hauch Desaster zu vergessen. Zumindest solange sie niemand ansprach, seinen Schatten auf ihr Buch warf oder sich zu dicht neben sie setzte.
Schade, dass Lemaitre das entweder nicht geahnt oder bewusst ignoriert hatte. Dr. Bueno schrak zusammen, und beinahe hätte ihre Hand dabei die Seite zerknüllt, über die vor wenige Sekunden noch ihr Finger fast zärtlich gestrichen war. Der Versuch, sich auf alle Möglichkeiten zu konzentrieren, was man vor ein paar hundert Jahren als "Große Hand" hätte bezeichnen können, kam zu einem kläglichen Ende.
Sie warf Lemaitre einen verärgerten Blick zu, strich die Seiten ihres Reisetagebuchs auf den Knien glatt, presste die Lippen abweisend aufeinander und vertiefte sich wieder in ihre eigene Schrift. 'Zwischen den sprudelnden Mündern'... das konnte nur zwei Flüsse sein. Und der, dem es dann zu folgen galt, musste doch eigentlich der nördlichere von beiden sein, die Laete. Wenn sie doch nur wüsste, was es mit dieser Hand auf sich hatte!

"Bis du dir das gemerkt hast, ist sie wieder in NY. Und wie viele Stunden Versatz haben wir von der Boccaciobucht nach New York?" Er zwinkerte ihr zu und erwartete nicht wirklich eine Antwort.
"Satellitentelefon haben wir schon dabei, nur werden wir unterwegs so lange sparsam mit unseren Resourcen sein müssen, dass wir unsere Akkus vorerst für wichtigeres aufsparen müssen." Mal ganz abgesehen davon, dass Ray wie viele Männer dazu tendierte immer hundertprozentig das zu tun, was er eben gerade tat. In den wenigen Wochen im Jahr, in denen Familienleben angesagt war, konzentrierte er sich wirklich ausschließlich darauf, aber auf einer Expedition, rückten die Gedanken an die Familie komplett in den Hintergrund. Ihm war das auch nicht als verletzend bewusst. Warum auch, sie wussten, dass er sie liebte.
Auch dieses Mal stand für ihn die Expedition im Vordergrund. Dass Amber dabei war, freute ihn natürlich über alle Maße, aber er würde sich in der Gruppe ihr gegenüber kaum anders verhalten als allen anderen. Zumindest glaubte er das im Moment. Vorsatz und Realität war ja doch irgendwie zweierlei.

Amber verdrehte aufgrund der Oberlehrermasche ihres Dads einfach die Augen und wiegelte mit einem "Ja, ja schon gut." ab. Auch seine Ausführungen zu dem 'heiligen' Satellitentelefon quittierte sie mit kaum mehr als einem Nicken und einem eher mitleidigen Blick zu ihrem Vater. Wenn der erstmal auf Forscher-Modus war, war aber auch gar nicht mehr mit ihm zu spaßen.

Doch sie hatte Hoffnung, dass sie dennoch einen gewissen Tochterbonus haben würde, selbst wenn er so drauf war. Zum Glück gab es zuhause niemanden, den sie täglich anrufen wollte, denn wenn dem so wäre, könnte er das mit einer langen Akkuhaltbarkeit vergessen. Außerdem, wo wollten sie eigentlich die Akkus aufladen da mitten im Dschungel? "Hat das Ding nicht so ne Kurbel?" Das war nicht wirklich als Frage an ihn gemeint, sondern Amber dachte nur laut nach. Praktischer wärs allemal oder waren diese Kurbel-Auflade-Dinger etwa aus der Mode gekommen? Sie seufzte theatralisch.