RE: Vorderdeck - 8

Delia musterte Dr. Bueno eingehend, konnte aber keinen Hinweis darauf entdecken, was genau sie jetzt mit bemerkenswert titulierte. Nun gut. Dann geht sie am besten davon aus, was ihr am ehesten zusagt. Nämlich dass Dr. Bueno ihr gegenüber ihr Missfallen für das erste hat fallen lasen. Sie sollte es sich mit ihr nicht gleich von Anfang an verscherzen. Das würde die Angelegenheit nur unnötig erschweren.
Sie trat etwas näher und wollte einen ersten neugierigen Blick in das kleine Notizheft der Doktorin werfen. "Wo genau haben Sie diese Information eigentlich her?" Sie fügte kurz darauf noch hinzu. "Vielleicht gibt uns das einen weiteren Hinweis."

Puh, ein Tempel. Das gefiel ihr schon mal gar nicht, ganz und gar nicht! Die Chance, dass sie rein zufällig in der Nachbarschaft ihres Tempels nach einem ganz anderen Bau suchten, war ja nun nicht gerade die größte. Teo befeuchtete sich besorgt die Lippen. Andererseits gab es doch gar keinen Hinweis auf das Rad des Mondes! Kein anständiger Selenist würde es je verpetzen, und sie waren doch nie so dumm gewesen, Karten davon anzufertigen! Oder etwa doch?
"Guuut." Sie atmete tief ein. "Und nun stell dir vor, wie du davor stehst. Du siehst - bröckelige Steinquader, die vor Jahrhunderten von den Inka aufgetürmt worden sind, und du spürst die Wärme, die sie abstrahlen." Sie machte eine kleine Kunstpause. "Jetzt stell dir vor, wie du dich umdrehst. Und du siehst..."

Woher..? Dr. Bueno blinzelte. Nun, sie durfte natürlich nicht vergessen, dass diese Expedition weder damit hausieren gegangen war, auf welche Quellen sie sich stützte - das wäre schließlich fatal für spätere Veröffentlichungen - noch hätte sie eine faire Chance gehabt, aufgrund dieser Quellen wissenschaftlich diskutiert zu werden. Im Allgemeinen waren sie sicher 'diese Expedition, die nach der erfundenen Kultur sucht', und warum auch hätten sie alles Wissen mit ihren Studierenden teilen sollen? Zumindest mit jenen, die sich erst für die Expedition gemeldet und nicht schon vorher an diesem Thema gearbeitet hatten.
"Meiner These folgend wurde die Wegbeschreibung spielerisch in die musikalische Folklore aufgenommen, und dieser Text hat mündlich tradiert Jahrhunderte überdauert. Spezifisch ausgedrückt: Die Wegmarken entstammen einem Kinderlied", beantwortete sie Delias Frage. "Und ich versichere Ihnen, dass es keine näheren Angaben zur großen Hand dort gibt."
Nun, es wurde definitiv Zeit, dass sie mit einer ersten Lagebesprechung begannen! Dr. Bueno sah sich nach Professor Williams um, doch dieser hatte sich ganz an den Bug verzogen, drückte sein Handy gegen das Ohr und schien in ein sehr energisches Gespräch vertieft. Nur kurz fing sie seinen Blick auf, und sie fand, dass irgendetwas zwischen Leiden und Verärgerung in seiner Miene lag. Unter Umständen würde er es ihnen später mitteilen. Aber wenn er momentan verhindert war...

"Mhh", murmelte Sébastien, "mhh..." Tja, was sah er denn jetzt da? Er konnte sich einiges vorstellen - wirklich sehen tat er natürlich gar nichts, ausser ein paar seltsame wabernde und flackernde Farbmuster vor seinen geschlossenen Augen. Das war ja ein merkwürdiges Spiel, das sie da mit ihm spielte.

Wegen der geschlossenen Augen nahmen seine Ohren reflexartig mehr Informationen wahr als sonst. Er hörte das Tuckern des Motors, das Plätschern des Wassers, Gesprächsfetzen von Bueno, Delia... und auch Williams. "Ehm, ich sehe Dschungel?" Sein Tonfall war unsicher und fragend. Aber es schien ihm plausibel, dass auf der anderen Seite des Tempels Dschungel lag.

Dschungel. Teo lächelte leicht. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, wie es aussah, wenn man tatsächlich oben am Tempel stand, sich umdrehte und auf den Dschungel sah.. Eigentlich sah man sogar direkt in den Dschungel, wenn man oben an der Treppe stand, auch wenn von der Treppe nicht mehr so schrecklich viel zu erkennen war. Man konnte richtig in die Etagen der Baumriesen sehen, die Papageien, die Affen, die ganzen Orchideen.. Teo konnte es regelrecht vor sich sehen: das ineinander greifende, grüne Leben mit den Farbtupfern darin bei Tag, und auch der dunkle, nur vom Vollmond beschienene Dschungel bei Nacht.
"Richtig, Dschungel", nickte sie - erstarrte dann aber kurz. Richtig? Warum um alles in der Welt sagte sie da denn 'richtig'?! Jetzt musste sie da einfach drüber hinwegreden.
"Du stehst also vor dem Tempel und blickst in den Dschungel. Und irgendwo am anderen Ende des Dschungel befindest du dich jetzt. Wenn du dich ganz stark konzentrierst, kannst du dich sogar selbst am anderen Ende des Dschungels sehen. Und wenn du jetzt von oben kucken könntest, würdest du zwei Kreuze sehen: das, wo du jetzt bist, und das, wo der Tempel ist. Und dazwischen ist eine feine gestrichelte Linie. Siehst du sie?"

Sébastien, die Augen noch immer geschlossen, runzelte die Stirn. Gestrichelte Linie? Durch den Dschungel? Ihre Bestätigung, dass er vom Tempel aus Dschungel sehen würde, nahm er genauso wenig ernst, wie alles andere, was sie hier gerade tat. Schliesslich hatte sie keine Ahnung von dem Ort, den sie suchten... Nein, das hier war einfach ihre Art, mit ihm zu flirten, und wieder eine Gelegenheit zu nutzen ihn anzufassen...

"Mhh..., bei mir ist die Linie eher gepunktet, zählt das auch?" Und es war seiner Stimme anzuhören, dass er das hier als reines Spiel sah. Was wäre Bueno froh, wenn es eine solche direkte Linie auf ihrer Karte gäbe, schoss ihm durch den Kopf, während weitere Wortfetzen vom ihrem Gespräch mit Delia an sein Ohr drangen. "Aber noch viel interessanter: Woher hast du eigentlich diese Fähigkeiten? Du bist nicht etwa die Nachfahrin einer Inkatempelpriesterin...?" Es gab immerhin Gerüchte von übersinnlichen und magischen Ritualen bei den Selenisten. Allerdings musste man das vermutlich nicht sonderlich ernst nehmen, früher war immer sofort alles magisch gewesen, nur weil man es sich nicht erklären konnte.

"Ah ja." Sagte Delia Sanchez kurz angebunden und nickte verstehend dazu. Das beantwortete allerdings nicht ganz ihre Frage. Natürlich kannte sie das angebliche Kinderlied. Wobei es vielleicht auch eines war. Aber mittlerweile wusste sie mehr darüber, um es als Kinderlied abzustempeln. Die Frage war doch viel eher, wie kam die Professorin an dieses Kinderlied.
"Nun ja, vielleicht fehlen ja Teile des Liedes." Sie befeuchtete sich rasch die Lippen und fügte hinzu, bevor Dr. Bueno wieder verärgert auf sie reagierte. "Nichts gegen ihre Arbeit. Sie haben eine wirklich tolle Vorarbeit geleistet. Erst einmal darauf zu kommen, bedeutet eine großartige Leistung. Für die ich sie bewundere." Und das tat sie wirklich. "Es ist nur ein Gedanke. Ich meine, sie sagen ja selbst, dass es über Jahrhunderte von einem zum anderen mündlich weitergegeben wurde. Sie kennen sicherlich das Spiel 'Stille Post'. Es verschwindet immer ein Wortfetzen. Vielleicht fehlt uns hier auch etwas. Darf ich es mal sehen? Vielleicht sagt es mir etwas." Vielleicht konnte sie auch gleich noch einen Blick auf ihre Notizen werfen.

Teo unterdrückte einen Seufzer. Schade, das schien nicht zu funktionieren - es wäre ja aber auch zu schön gewesen, wenn er ihr jetzt irgendwelche Details erzählt hätte. Falls er überhaupt welche kannte.
"Gepunktet? Ohje." Jetzt stieß sie doch einen sehr tiefen Seufzer aus und zog die Hand von Sébastiens Augen. "Tut mir leid, aber wenn du keine Striche, sondern Punkte siehst, hat das leider überhaupt nicht funktioniert." Sie zog auch die zweite Hand von seiner Schulter und stützte sie wieder auf die Reling.
"Ich werde das Internet verklagen müssen. Magische Kräfte in 28 Tagen - von wegen." Sie zwinkerte Sébastien zu. "Also nix Inka." Sie begann, langsam mit den Beinen zu baumeln, legte den Kopf schief und krauste die Nase. "Wobei ich das Gefühl habe, du hast nie wirklich an die Sache mit dem Zaubern geglaubt. Vielleicht lag's daran, dass es nicht geklappt hat."

Der Franzose grinste, öffnete die Augen und sah sie an. "Dem Internet ist eh nicht zu trauen... besonders nicht, wenn es um magische Kräfte geht." Sie hatte es sich wieder auf der Reling bequem gemacht. Rasch wanderten seine Augen über das Boot, um zu sehen, ob sich sonst was verändert hatte. Williams war am Handy und wirkte irgendwie erregt, hm. Der Rest war nicht gross verändert.

Dann fokussierte er wieder auf Teo. "Absolument, das mit dem Glauben hat bei mir schon immer schlecht funktioniert", erklärte er ihr. "Warum bist du eigentlich so sicher, dass deine Familie nicht von den Inkas abstammt. Könnte doch sein. Oder bist du nicht aus der Gegend hier?"

"Dabei hat es einen so seriösen Eindruck gemacht", seufzte Teo und zuckte mit den Achseln. Eigentlich hatte sie ja auch keine zu hohen Erwartungen an ihren kleinen 'Zauber' gestellt, aber ein wenig enttäuscht fühlte sie sich dennoch.
Allerdings war seine Frage nach den Vorfahren gar nicht so übel. Teo runzelte die Stirn und nickte nachdenklich. "Stimmt, von dem Blickpunkt aus betrachtet könnte ich tatsächlich von einer Inkatempelpriesterin abstammen." Sie reckte das Kinn und grinste ihn an. "Das kann ja auch nicht jede von sicher behaupten, nicht? Wie sieht's bei dir aus? Irgendwelche Inkatempelpriester unter den Urururahnen, die dir jetzt befehlen, an den Ort ihrer Jugend zurückzukehren und ihre Gebeine zu heben?" Sie lachte. "Oder was auch immer du da in dem Tempel findest."

"Es fehlen sogar sehr vermutlich Teile", erwiderte Dr. Bueno mit einem Anflug von Anerkennung in der Stimme und ohne im Geringsten gekränkt zu sein. "Es gibt allein in den Büchern mit Kinder- und Gute-Nacht-Liedern vier verschiedene Versionen des Textes, aber die Abweichungen von einander halten sich erfreulicherweise im Rahmen. Selbst im Vergleich mit Liedtexten, die im 19. Jahrhundert gedruckt worden sind, sind die Abweichungen bemerkenswert minimal, was darauf schließlich lässt, dass das Lied von hoher Wichtigkeit gewesen ist und eine relativ hohe Verbreitung hatte." Dr. Bueno legte das Reisetagebuch zusammengeklappt neben sich auf die Bank. "Ich habe hier irgendwo ein paar Kopien", sagte sie zögerlich, verzog dann allerdings das Gesicht. "Ah, nein, die Kopien sind in meinem Gepäck. Aber ich zeige Sie Ihnen heute abend."
Ihr Blick fiel auf das Ufer, das sich immer waldiger zeigte, und Dr. Bueno befeuchtete nervös ihre Lippen. Nicht mehr lange, und sie würden tatsächlich in die Lage versetzt, einen Blick auf den Teil der Bucht zu werfen, der den Tempel verbergen musste. Und Williams telefonierte!
"Wir sollten das Ufer filmen", murmelte sie, um dann mit erhobener Stimme zu fragen: "Hat jemand eine Digitalkamera griffbereit? Oder einen Fotoapparat?"

"Voilà...", er nickte ihr bestätigend zu. Sie war also tatsächlich aus der Gegend. "Vielleicht würde es sich lohnen, ein bisschen Ahnenforschung zu betreiben. Möglicherweise stösst du dann auf echten Zauber statt auf online Hokuspokus."

Dann stimmte er in ihr helles Lachen ein. "Mais non, das ist ziemlich unwahrscheinlich... leider. Wie alle französischen Familien, die etwas auf sich halten, stammt auch meine in direkter Linie von Louis XIV ab..." Er grinste breit. "Und da gibt es bestimmt keine Bezüge zu den Inkas oder sonstigen Eingeborenen der Neuen Welt." Sébastien verlagerte seine Haltung ein bisschen, um etwas mehr von dem angenehm kühlenden Fahrtwind abzubekommen. "Nein, im Ernst, die Lemaitres waren kleine Ladenbesitzer, die mit Textilien wohlhabend geworden sind und dann ein kleines Handelsimperium begründet haben. Mein Grossvater wechselte dann ins lukrativere Bankgeschäft, und mein Vater besitzt heute eine der grössten Privatbanken Frankreichs." Er zuckte mit den Schultern. "Keine Magie, dafür Geld. Auch ganz nützlich."

Oh, sie hätte ihm einiges über Ahnenforschung, Priester und echte Magie erzählen können, ohne dafür Ahnenforschung betreiben zu müssen, bloß würde das alles ein Familiengeheimnis bleiben.
"Manche halten das sogar für den größeren Zauber." Wobei er erstaunlich uneingebildet klang, während er von seiner Familiengeschichte erzählte, und den stärksten arroganten Eindruck hinterließ dabei sicher der Akzent. Mit französischen Genäsel verband sie irgendwie immer die eingebildeten Schnösel aus einer sehr erfolgreichen Filmreihe in den narracitischen Kinos, egal wie sympathisch ihr jemand war, der so sprach. Ob er beleidigt war, wenn sie ihn fragte, wie Froschschenkel eigentlich schmeckten? Oder ihn darauf hinwies, dass er diese Delikatesse lieber nicht im Dschungel zu fangen versuchte, weil da doch so manch bunter Schenkel herumhüpfte, der ihn das Leben kosten könnte?
"Und andere", sie grinste ihn unbekümmert an, "halten es für den größeren Hokuspokus."

Delia lauschte interessiert den Ausführungen von Dr. Mercedes Bueno. Sie hatte gute Recherchen geleistet. Selbst sie wusste nicht, dass es doch so viele verschiedene Versionen gab. Vielleicht auch einfach nur deswegen, weil sie es kannte und wusste was dahinter steckte. Warum sollte sie also nach etwas suchen was sie kannte?
Sie seufzte innerlich auf und verfluchte die Vorsichtigkeit der Doktorin. Wahrscheinlich ist heute einfach nicht ihr Tag, um an wichtige Informationen zu kommen. Allerdings ist es vielleicht auch besser erst einmal ein gutes Verhältnis zu ihr aufzubauen. Dann wird es leichter.
"Das hört sich auf jeden Fall interessant. Ich würde gerne mehr über die verschiedenen Varianten erfahren. Vielleicht sehe ich etwas, was sie noch nicht gesehen haben, weil mir etwas aus meiner Zeit in Atempo bekannt vorkommt." Sie lächelte Dr. Bueno freundlich zu. Allerdings würde sie auch gerne mehr über die diversen Varianten erfahren. Es klingt interessant und vielleicht kann es ihr noch einmal weiterhelfen.
Sie schüttelte den Kopf, als Mercedes Bueno fragte, ob jemand eine Kamera dabei hätte. "Tut mir Leid, ich habe keine. Glauben sie, dass die Hand sich irgendwo am Ufer befindet?" Da könnte sie lange suchen.

Das durfte doch nicht wahr sein! Sie befanden sich auf einer Expedition, um unerforschtes Terrain wissenschaftlich urbar zu machen, und niemand - sie eingeschlossen, und darüber ärgerte sich Dr. Bueno am allermeisten - niemand hatte etwas zur Hand, um ihre Anreise zu dokumentieren?
"Vermutlich nicht, aber wer weiß, was uns bei der Sichtung des Materials alles noch auffallen könnte." Sie sprach zunehmend hektischer, während sie sich innerlich zu beruhigen versuchte. Noch waren sie nicht im Mündungsgebiet der Laete, und damit hatten sie noch etwas Zeit, alles vorzubereiten. Aber so konnte das ja nicht weitergehen!
Dr. Bueno erhob erst sich, warf einen kurzen Blick zu Williams, der noch immer telefonierte, und erhob anschließend ihre Stimme. "Senor Lemaitre, Senorita Williams, Senorita Klein - eine Kamera! Egal ob Foto oder Film, irgendwer muss doch etwas zur Dokumentation griffbereit haben!"
Natürlich hatten sie dafür auch eine Kamera im Gepäck, da war sich Dr. Bueno ganz sicher - aber wo die jetzt verstaut war...?