RE: Vorderdeck - 4

Leider war es für Amber noch nie schwer gewesen, ihren Vater um den Finger zu wickeln und so merkte er auch jetzt wieder, dass bei ihrem Augenverdrehen, seine Mundwinkel unwillkürlich nach oben zuckten.

"Wir hätten noch ein paar Jungs von der physikalischen Fakultät mitnehmen sollen", scherzte er.
Heutzutage ging wirklich fast nichts mehr von Hand. Wenn er an seine ersten Besuche an Ausgrabungsstätten zurückdachte, war es eigentlich kaum noch als der selbe Beruf zu erkennen. Wer mit romantisierten Vorstellungen a la Hollywood kam, wurde schnell auf den Boden moderner Hightech-Tatsachen zurückgeholt.
Und was, wenn Hightech versagte? Dann hatte man weniger in der Hand als beispielsweise Schliemann seinerzeit.

"Physiker?" sprich Nerds... Amber hob skeptisch eine Augenbraue. "Ich fürchte die wären überfordert... So in der Wildnis." Sie grinste. Schon allein, dass man die mal außerhalb ihres 'natürlichen Lebensraums' sehen würde, wäre den Versuch wert. Aber in Endeffekt würden die dann wahrscheinlich nur mit irgendwelchen Fachbegriffen um sich werfen, während sie versuchen aus einer Büroklammer, einem Stück Bindfaden und Kaugummi einen Generator zu bauen. FALLS sie sich überhaupt auf sowas konzentrieren konnten. Immerhin waren auch Mädels in kurzen Hosen anwesend. Nein, lieber wären ihr da ehrlich gesagt ein paar knackige Sportstudenten. Sie fragte sich, ob wohl noch andere weibliche Expeditionsteilnehmer dafür wären. Dieses Bootsmädchen bestimmt. Irgendwie schätzte Amber sie sehr... genussmenschlich ein. Obs an den Haaren lag?

Ja, wären sie. Aber das wäre mal eine lustige Vorstellung. Physiker kurz vor dem Diplom, die im Dschungel von Narracion versuchten, ein Satellitentelefon ohne Strom in Betrieb zu nehmen. Eigentlich hieß es ja, die Geisteswissenschaftler wären die Weltfremden, aber Ray konnte das zumindest für Archäologie, wo im Kleingedruckten Survivaltraining als Mindestanforderung stand, nicht akzeptieren. okay, vielleicht übertrieb er allerdings auch gelegentlich bei den Anforderungen an sich selbst.

"Ich glaube auch, dass sie das wären". Fasste er seine Gedanken in Kurzform zusammen.

"Was hast du denn heute früh noch angestellt? Ich dachte vorhin, du versetzt mich."

Sie hatte schlicht und ergreifend verschlafen. Also ihr Wecker hatte zwar geklingelt, aber sie hatte ihn mit einem Schlag wieder zum Schweigen gebracht, sich auf die andere Seite gedreht und weitergeträumt. Und dann war sie zu spät dran um noch zu frühstücken oder irgendwas anderes zu tun, als schnell zu duschen und sich anzuziehen. Sonnencreme hatte sie dann schnell noch im Taxi aufgetragen - den Fahrer hatte es gefreut. Und als Frühstück musste der Kaffee im Stehen am Bootssteg genügen.

Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und fasste es im Nacken zusammen, bevor sie es wieder losließ. Nicht mal genug Zeit für einen Zopf hatte sie gehabt. Und langsam wurde es recht schwül, auch wenn die Briese vom Wasser es erträglich bleiben ließ. "Ach Dad... Du weißt doch, wie wir Frauen sind." Sie zwinkerte ihm zu. Klar hätte sie auch einfach eingestehen können, dass sie verschlafen hatte, dass ihr Körper die kuschlige Gemütlichkeit des letzten richtigen Bettes für Wochen nicht missen wollte, aber sie ließ das einfach mal. "Für dich mag es nur ein schlichter Trip in den Dschungel sein, doch das heißt noch lange nicht, dass meine Körperpflege zu kurz kommen darf."

Diesmal war es an Daddy, die Augen zu verdrehen. Oder? Nein, er beherrschte sich, das war eine Töchtern vorbehaltene Geste. Männer hoben statt dessen eine einzelne Augenbraue und genau das versuchte er. Mehr schlecht als recht, weil es gar keine so leichte Geste war, wenn man sie nicht gelegentlich vor dem Spiegel übte, was er natürlich nicht tat.

"Soso", brummte er begleitend.
"Aber ich hoffe, in deinem Gepäck befindet nicht ausschließlich Kriegsbemalung, das kann in Gegenden wie diesen furchtbar missverstanden werden."
Den Begriff Kriegsbemalung für Make-Up hatte er irgendwann wann mal von seiner Frau aufgeschnappt, die wie auch Amber eine natürliche Schönheit besaß und soetwas eigentlich gar nicht nötig hatte. Er betonte den Satz selbstverständlich so, dass deutliche Ironie daraus zuhören war. In Narracion gab es keine Eingeborenenstämme, die Make-Up missdeuten könnten, aber manchmal machte das Spiel mit dem Klischee einfach zu viel Spaß.

Zwar hatte Sébastien sich schon abgedreht und war Richtung Sitzbank unterwegs als Teo ihre letzte Bemerkung fallen liess, aber natürlich hörte er sie dennoch. Und grinste breit. Ihr offensichtlicher Blick auf seine Rückseite hingegen entging ihm zwangsläufig. Nicht jedoch Buenos Blick und wie sie abweisend ihre Lippen zusammenkniff, als er sich neben sie gesetzt hatte. Die Senora war wie üblich ein Ausbund an Sympathie und Kommunikation. Aber da Williams so wirkte, wie wenn er mit seiner Tocher ein Gespräch unter vier Augen führen wollte, blieb ihm nur Bueno.

Er rückte etwas näher an sie ran und warf ein Blick auf das Buch in ihrem Schoss. "Und? Wie schwierig wird es werden, unser Ziel zu finden, Senora?" Sébastien klang ehrlich interessiert. Small Talk war nicht ihr Ding, das war klar. Aber vielleicht taute sie ein bisschen auf, wenn sie über ihre Steckenpferd redeten.

Gespielt erschrocken schaute Amber zu ihrem Vater auf. "Mist! Hättest du mir das nicht vorher sagen können? Ich hab jetzt wirklich nur das Nötigste eingepackt." Sprich: Make-Up. Sie knuffte ihn in die Seite. "Nein, natürlich hab ich nicht nur Schminkzeug dabei. Sagt dir der Spruch 'Perlen vor die Säue werfen' etwas? Das wäre doch vollkommen verschwendet. Wer sieht mich schon im Dschungel?" Außer den Expeditionsteilnehmern und ihren Führern, von denen ja vielleicht irgendwer potentiell niedlich sein könnte. Von daher hatte sie natürlich schickere Klamotten, Schminke und Accessoires eingepackt. Aber eben nicht nur. Sie war hier schließlich nicht auf der Upper Westside in New York in einem coolen Club - gott wie sie das in den nächsten Wochen vermissen würde. Nein, sie war hier am Ende der Welt. Wenigstens Sebastién war bisher ein Lichtblick, was Männer anging.

Sie grinste ihren Vater an und schaute hinüber zu den Sitzbänken, wo sich ebenjener Sebastién gerade mit Mercedes unterhielt. "Ich glaub ich werd mir auch schonmal nen Sitzplatz suchen."

Und wieder wurde sie gestört! Zu dumm, dass sie bei der Planung der Expedition nicht bedacht hatte, dass sie dabei sicher häufig Fragen ausgesetzt sein würde, die ihre Konzentration störten.
Dr. Bueno stieß ein unzufriedenes Schnauben aus und rutschte instinktiv ein Stück zur Seite, sodass der ursprüngliche Abstand zwischen Lemaitre und ihr wieder hergestellt wurde. "Das kommt darauf an", erwiderte sie und wandte ihm ihr Gesicht zu, während sie das Tagebucht zwischen ihn und sich auf die Bank legte und so schob, dass er leicht darauf blicken konnte. "Die Wegbeschreibung ist sehr kryptisch, und unter Umständen noch nicht einmal komplett." Sie verzog das Gesicht, doch dann legte sich eine leichtes Lächeln auf ihre Lippen. "Den Anfang unseres Weges dürften wir allerdings schnell finden, und den Flusslauf werden wir wohl kaum verfehlen." Falls er sich in all den Jahren nicht verschoben hatte. "Sorge bereitet mir vor allem die Große Hand." Sie seufzte. "Wenn wir sie erkennen, könnte uns das helfen, den gesamten Code der Beschreibung zu knacken, und dann werden wir den Tempel schon in ein oder zwei Tagen gefunden haben." Sie warf einen Blick zum Ufer. "Falls wir je ablegen, heißt das."

Bueno ging sofort auf Abstand, und Sébastien war froh, dass nicht alle Frauen so auf seine Annäherung reagierten. Aber immerhin schien seine Idee zu funktionieren, sich aufs Fachliche zu konzentrieren, denn nach ihrem ersten unzufriedenen Schnauben fing sie plötzlich an mit ihm zu reden. Und nicht nur das, sie hielt ihm sogar ihr heiliges Buch hin. Der Franzose beäugte interessiert die Aufzeichnungen, während sie ihre Erklärungen abgab. Beinahe hätte er dabei ihr Lächeln verpasst. Und siehe da, plötzlich sah sie beinahe sympathisch aus.

"Die Grosse Hand, huh?" Er nickte. "Eh bien, es wird irgendeine Wegmarke sein, die damals so aussah wie eine Hand, und es wird unübersehbar sein, daher 'gross'. Vielleicht eine Felsformation...", spekulierte er. Blieb zu hoffen, dass es nichts mit der Vegetation zu tun hatte, die heute möglicherweise ganz anders aussah. "Ich bin sicher, wir werden es nicht übersehen, wenn wirs vor uns haben." Sébastien sah sein Glas immer lieber halb voll als halb leer. Dann folgte er ihrem Blick zum Ufer und sah dabei, dass Amber sich von ihrem Vater auf den Weg zu den Sitzbänken gemacht hatte. "Kann mir nicht vorstellen, dass es noch lange dauert. Inzwischen sind doch alle da, oder?"

Dr. Bueno runzelte ihre Stirn. "Ihren Optimismus in allen Ehren, Senor Lemaitre, aber die Große Hand ist nur die erste von vielen Wegmarken, die wir erkennen müssen. Wenn es eine Steinformation ist", und sie wusste nicht, ob es sie erfreuen oder an ihrem Ego kratzen sollte, dass er dieselbe erste Assoziation gehabt hatte wie sie, "sind die übrigen Wegmarken vielleicht auch Steinformationen. Hier.." Sie zog das Buch wieder herum und las ihm, nachdem sie sich rasch umgesehen, aber niemanden in der Nähe gesehen hatte, den sie nicht ins Vertrauen gezogen hätte, was ihre Wegplanung betraf. Also fuhr sie mit leicht gedämpfter Stimme vor, die von ihr ermittelten Wegmarken vorzulesen: "Hier, die große Hand, der Glanz der Sternenschweife, die vier Wächter am Schlund, das Auge, das den Himmel bewacht, das Rufen der Erde oder die achte Königin." Dr. Buenos Stimme wurde mit jeder Wegmarke erregte, denn die Aufregung, die sie bei dem Gedanken verspürt hatte, ihre Theorie auf der Expedition zu bestätigen, besiegte ihre Angst vor dem Sinken und ihre Abneigung gegen ein Reisen mit so vielen Menschen auf engem Raum. "Oder hier: vier Stufen zum Rad..." Sie schürzte die Oberlippe. "Das können nicht alles Felsformationen sein. Obwohl die Stufen..."

Bueno war in ihrem Element, und es war fast ein bisschen unheimlich zu sehen, wie sie sich vor seinen Augen verwandelte - von einer mürrischen, schwierigen, quengligen Frau in eine aufgeregte Forscherin, die einen grossen Preis zum Greifen nah vor sich sah. Sébastien lächelte, als er realisierte, dass sie sich Sorgen machte, belauscht zu werden. Aber natürlich war da niemand, wie sollte auch, sie waren auf einem Boot im Wasser.

"Es wäre ein bisschen fantasielos, wenn das alles Felsmarken wären", hielt er fest. Allerdings erfasste er auch zum ersten Mal, wieviel da offensichtlich noch unklar war auf ihrem Weg zum Tempel. Eigentlich hatte er gedacht gehabt, dass Williams und Bueno bei der Entschlüsselung dieser Dinge schon viel weiter waren. "Das mit den Sternenschweifen und dem Auge könnten Sternenkonstellationen sein", werweisste er. "Möglicherweise nur zu ganz bestimmten Zeiten sichtbar. Moment..." Er hatte einen Geistesblitz. "Auge, das den Himmel bewacht? Das ist der Mond, oder? Vollmond!" Nun klang auch er ein bisschen aufgeregt.

"Bisher können wir nicht einmal mit Sicherheit sagen, dass es sich bei der Großen Hand um eine Felsformation handelt", gab Dr. Bueno ein wenig eingeschnappt zurück. Fantasielos! Sie sprachen hier doch nicht von irgendeinem Fantasyroman, in dem man sich möglichst viele absurden Ideen ausdenken und in einer Geschichte verpacken musste! Hier ging es um reale Geschichte, und was hatte die schon mit Fantasie zu tun. "Aber um das zu entdecken, müssen wir uns selbst ein Bild von der Gegend machen. Wir haben es mit Satellitenbildern versucht", sie rümpfte die Nase bei der Erinnerung an die Enttäuschung, die der Versuch mit sich gebracht hatte, "aber man erkennt nicht besonders viel, nur Bäume, Bäume und Bäume."
Sie musterte Lemaitre einen Moment. "Aber das mit dem Vollmond, das könnte hinkommen. Warten Sie.." Sie begann, in ihren Hosentaschen zu kramen, und murmelte dabei vor allem zu sich selbst: "Ich muss doch irgendwo einen Stift haben!"

Sébastien verzog sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Ganz verschwunden war sie also nicht, die alte Bueno. Er zuckte mit den Schultern. "Klar, deshalb sind wir ja hier, um uns selbst ein Bild zu machen. Vielleicht ist die Grosse Hand auch ein Wasserlauf, der sich enstprechend verzweigt oder so." Obwohl das hätte man mit den Satellitenbildern eigentlich sehen müssen. Ausser natürlich das Wasser war unter den Bäumen. Aber die Einheimischen damals hatten ja keine Möglichkeit, sowas aus der Vogelperspektive zu sehen, es musste schon was sein, bei dem man vom Boden aus 'Grosse Hand' assoziieren konnte, nicht? Ausser es war komplexer. Eine Allegorie vielleicht. Hmmm. Immerhin: Die Mond-These schien ihr zu gefallen.

"Hier", erklärte er und hielt ihr einen Stift hin, den er leger aus seiner Hemdtasche gezogen hatte. Dabei fiel ihm wieder der dunkle Fleck auf seiner Hose auf, den er sich vorhin geholt hatte, als er Teo behilflich gewesen war, die Taschen zu verstauen. Merde, er musste sich möglichst bald umziehen...

"Unwahrscheinlich, das müsste man auf den Karten sehen können." Abwesend klopfte Dr. Bueno ihre Taschen ab. Das konnte doch gar nicht sein, sie hatte doch immer einen Stift dabei! Hatte sie ihn etwa in ihrer Reisetasche? Oder ihn gar im Hotel liegen gelassen? Natürlich hatte sie in ihrem Gepäck mehr Stifte, aber das jetzt, das war doch wirklich ärgerlich!
Erleichtert sah sie auf, als Lemaitre ihr einen Ersatz reichte. "Oh, merci beaucoup!" Mit einem Lächeln nahm sie ihn entgegen und machte sich gleich daran, das Wort 'Vollmond' mit einem Fragezeichen versehen in ihr Tagebuch zu kritzeln. Und dann machte sie noch einen Strich und fügte 'Sonne' hinzu. Gut, der Selenismus war ein Mondkult, aber war ein Marsch durch den nächtlichen Dschungel nicht viel zu gefährlich?
"Sie haben nicht zufällig noch weitere Assoziation? Spontan?" Neugierig blickte sie zu Lemaitre.

cf: Hinterdeck

Das Deck unter ihren Füßen begann zu zittern, als der Motor der Caminante begann sich warmzulaufen, auch wenn das bedeutete, dass es eine Spur lauter wurde. Teo sah vergnügt, wie ein paar Möwen kreischend die Flucht vor dem Rattern des Motors ergriffen - wenn man erst einmal unterwegs war und sich die Geräusche zu einem gleichmäßigen Tuckern verändert hatten, war die Caminante nicht mehr zum Vertreiben zu gebrauchen.
Unwillkürlich suchte Teo nach Lemaitre, aber der war leider in ein Gespräch vertieft, und Teo hatte keine Zeit, um Mäuschen zu spielen, weil sie die Gangway einholen und die Leinen lösen musste.
"Senorita!", rief sie stattdessen Amber zu. "Würden Sie mir eine helfende Hand leihen? Sie müssten nur ein paar Seile auffangen."