Atempo » Eloy di Campis Hütte

cf: Dorfwege

Nachdem er die Sandalen in die Hütte gebracht und sich etwas zu trinken geholt hatte, trat Eloy wieder vor seine Tür, bewaffnet mit einem Fischmesser, einer Schüssel mit Wasser und einem Eimer, in den er die Fische aus seinem Netz umgefüllt hatte. Die Morgensonne war zu schön, um sich vor ihr im Innern der Hütte zu verstecken, und bis es so drückend heiß wurde, dass Eloy sich zu einem Schläfchen wieder nach drinnen verdrücken wollte, würde er noch einiges an Arbeit schaffen.

Er zog die Fußstütze seines Strandkorbes heraus, stellte den Eimer daneben und die Schüssel darauf und machte es sich dann im Strandkorb bequem. Er hatte ihn vor Jahren im Internet bestellt, und noch immer fragte er sich, wie er es geschafft hatte, ihn bis hierher zu transportieren. Die Anstrengungen damals hatten sich allerdings gelohnt.

Leise pfeifend machte er sich daran, die Fische ordentlich zu säubern.

FIRST POST

Eigentlich war Miguel schon fast ein bisschen zu spät dran. Aber die Nacht davor war es mal wieder etwas spät geworden, weil er wie üblich so kurz vor Vollmond damit angefangen hatte, sich auf seinen Einsatz beim Tempel vorzubereiten. Reinigungsriten, Gebete, all das brauchte seine Zeit. So hatte er heute Morgen ein bisschen verschlafen und musste froh sein, wenn ihm die anderen Fischer der Gegend nicht schon alles weg geschnappt hatten.

Mit zügigen Schritten lief er deshalb durch das Dorf, das so langsam erste Zeichen morgendlichen Lebens aufwies, und hielt auf jenen Küstenabschnitt zu, an dem sein Boot angetäut war. Die Abkürzung durch zwei Seitenstrassen führten ihn dann direkt vor Eloy die Campis Hütte, und er hielt reflexartig inne, als er den anderen Fischer dort sitzen und arbeiten sah. "Oh...", erklärte er mit einem Blick auf den eher kärglichen Fang, "...das ist alles? Ist so wenig los heute da draussen?" Seine Stimme klang besorgt. Wenn Eloy, der deutlich früher draussen gewesen war, nur so wenig gefangen hatte, wie würde es dann ihm erst ergehen?

Eloy blickte auf, während er ein bisschen Darm zur Seite schnippte. "Morgen Miguel", begrüßte er den jüngeren lächelnd, auch wenn ihn dessen Frage schmerzlich daran erinnerte, wie erfolglos er den Rückweg angetreten hatte. Aber was hätte ihm ein Vielfaches des Fangs schon gebracht?

"Ich war einfach nur an der falschen Stelle", er zuckte mit den Achseln und legte den Fisch beiseite. "Außerdem war ich auch nicht sehr lange draußen. Für heute wird es reichen, und morgen ist ja auch noch ein Tag." Er runzelte die Stirn und legte den Kopf etwas schräg. Warum war Miguel überhaupt noch hier? "Aber solltest du nicht schon längst draußen sein?"

"Morgen..." erwiderte Miguel den Gruss, etwas peinlich berührt darüber, dass er so unhöflich gewesen war. Erst platzte er hier einfach so rein und dann grüsste er nicht mal. Eloys Erklärung für die mässige Ausbeute war nicht wirklich beruhigend. Es war in letzter Zeit ein paar Mal vorgekommen, dass er relativ wenig gefangen hatte. Und ihm ging es nicht drum, das zu fangen, was er selbst brauchte, er lebte davon, seinen Fang verkaufen zu können.

Sein Blick ruhte weiterhin auf den wenigen Fischen. "Ich weiss nicht, mir kommts vor, als ob es in letzter Zeit schwieriger geworden wäre, einen richtig guten Fang zu machen, als ob ich dauernd 'an der falschen Stelle' bin." Er seufzte. Und auf Eloys Frage nickte er etwas verlegen. "Ja... ich weiss. Ich hab' irgendwie verschlafen heute, sowas passiert mir sonst nie. Aber wenn ich mir das so ansehe, frage ich mich, ob es sich überhaupt lohnt, heute rauszugehen." Er strich sich durch die Haare. "Vielleicht stehe ich lieber morgen richtig früh auf." Seine Stimme klang ein wenig unschlüssig.

"Hm." Eloy runzelte die Stirn. "Ist mir bisher noch nicht aufgefallen." Aber er brauchte ja auch selten viel. Ein bisschen Fisch für den Speiseplan, wegen des tierischen Eiweißes und der Fette - mehr brauchte er nicht.

"Weißt du, was du mal versuchen solltest?" Fragend hob er die Brauen. "Du solltest deine Beute wechseln. Vielleicht sind gerade einfach weniger Fischschwärme unterwegs. Leg doch ein paar Reusen aus - ich hätte jedenfalls mal wieder Lust auf Krebsfleisch oder Muscheln." Hatte er nicht sogar noch eine Flasche Weißwein, die zum Trinken zu schlecht, fürs Kochen aber geradezu gekeltert schien?

"Vielleicht hatte ich ja echt einfach nur Pech", spekulierte Miguel. "Aber gute Idee, das mit den Reusen, werde ich versuchen." Er sah Eloy an. "Und du hast dann die erste Wahl, falls ich eine gute Ausbeute habe." An guten Tagen gab es unten beim Markt immer ziemliche Rangeleien, wer die grössten und schönsten Fische bekam, und ab und an kam es vor, dass dabei auch ganz schön viel Geld raussprang. Ein exklusives Vorkaufsrecht war somit ein recht grosszügiges Angebot. Aber Miguel wusste auch, dass Eloy nur für den Eigenbedarf einkaufen würde und somit nicht sehr viel. Seine Einnahmen aus einem guten Fang würde das kaum schmälern.

Weiterhin war er unschlüssig, ob es sich überhaupt noch lohnte loszuziehen. Immer in den Tagen kurz vor dem Ritual war alles etwas hektisch und kompliziert. Wie üblich stand für den Tempel einiges an Arbeit an, und dies alles zu erledigen, ohne dass jemand etwas davon merkte und sich über das Verhalten bzw. Verschwinden des jungen Fischers wunderte, war jedes Mal wieder eine Herausforderung. "Vermutlich mache ich eh ab morgen oder übermorgen wieder mal eine längere Tour. Ein bisschen weiter raus, vielleicht mit zwei, drei anderen." Konnte nichts schaden, schon mal damit anzufangen, falsche Spuren zu legen.

"Ich nehme dich beim Wort." Eloy nickte ihm lächelnd zu, während er nach dem nächsten Fisch griff, um ihn mit oft erprobten Handgriffen zum Ausnehmen aufzuschneiden.
So langsam beschlich ihn das Gefühl, dass Miguel heute wenig Lust darauf hatte, überhaupt hinauszufahren - und er verstand ihn dabei gut. Freiwillig und mehr oder minder zum Vergnügen hinauszufahren, die Angelschnur oder die Netze auszuwerfen und den Sonnenaufgang beobachten, während man darauf wartete, dass etwas anbiss - das war das eine. Aber jeden Tag außer Sonntags hinauszufahren, um sich die Einkäufe im Laden und das Bier im El Rubí zu verdienen? Das hätte ihn auf Dauer sicher zermürbt. Doch Miguel war jung; noch standen ihm alle Tore doch offen!
"Warum nimmst du dir nicht einfach mal ein paar Tage frei und fährst nach San Palabra?" Fragend hob er die Brauen. "Lernst ein paar Leute kennen und machst deinen Kopf so richtig frei? Vielleicht beißen die Fische danach wieder besser."

Miguel lächelte zurück. "Kannst du." Für jemanden, der das nicht jobmässig machte, wirkte Eloy recht geschickt im Ausnehmen von Fischen. Nicht gerade eine Arbeit, die ein Städter normalerweise gut und gerne machte. Nicht dass Miguel viel über Eloy wusste, aber soviel hatte er mitbekommen: dass dieser ursprünglich aus der Stadt kam. In letzter Zeit aber sah er ihn ziemlich oft hier.

"San Palabra?" Miguel sah ihn ein wenig skeptisch an. "Ich weiss nicht..." Er war natürlich auch schon dort gewesen, aber nicht oft. Und es war ihm zu... hektisch, voll, kompliziert. "Ich glaube, das Stadtleben ist nicht so mein Ding." Und er hatte jetzt auch überhaupt keine Zeit für solche Ausflüge, aber das konnte er Eloy ja nicht auf die Nase binden. "Ist ja auch ziemlich teuer", fügte er noch an. Vielleicht war das ja auch der Grund, dass Eloy jetzt mehr Zeit hier verbrachte. Womit der sein Geld verdiente, war Miguel nämlich überhaupt nicht klar. "Und gibt ja vermutlich auch nen Grund, warum du in letzter Zeit ziemlich oft hier bist..." Er wollte nicht neugierig erscheinen, auch weil er selbst es nicht schätzte ausgefragt zu werden. Letztlich zwang ihn das immer zu Lügen oder zumindest Halbwahrheiten. Aber vielleicht liess sich der andere ja nebenbei etwas entlocken.

"Du bist doch noch jung." Eloy sah verschmitzt zu Miguel herüber. "Glaub mir, ein paar Tage dort zu sein, ist das eine. Da zu leben - das ist etwas ganz anderes." Sein Blick wurde undeutlich, als er statt Miguel anzusehen eigentlich nichts mehr ins Auge fasste, sondern nur vor sich hin starrte. Außerhalb von Atempo war jedes Leben gleich in eine nie zu durchbrechende Routine aus Erwartung, Versagen, Schuld und neuer Erwartung abgerutscht. Hier störte es niemanden, wenn seine Hose ein Loch hatte oder sein Bartwuchs wucherte. In jeder Stadt war das anders gewesen. Womöglich hing das natürlich auch mit seiner Familie zusammen. Seinen Eltern. Seiner Frau.
Eloy schüttelte den Kopf, wie um die Erinnerungen zu verscheuchen, schloss kurz die Augen und erneuerte sein Lächeln, als er die Lider wieder hob. "Ich hab's ausprobiert - und ich glaube es nicht, sondern weiß, dass das nicht so mein Ding ist."

Miguel sah Eloy aufmerksam an. Es war ziemlich klar, dass da einige Erinnerungen hochkamen, so wie sein Blick jetzt plötzlich abdriftete. Schwer zu sagen, ob die positiv oder negativ waren, allerdings. Doch recht rasch riss er sich los und lächelte wieder. Der junge Fischer legte den Kopf schief, ein bisschen nachdenklich. "Ich war zwei-, dreimal dort. Es war sehr anstrengend." Aber ja, vielleicht wenn er mit der richtigen Begleitung dort wäre, möglichweise wäre es dann anders.

Es war das erste Mal, dass Eloy ihm gegenüber sowas wie eine Vorgeschichte andeutete. "Mir ist aufgefallen, dass du oft hier bist, in letzter Zeit, ja. Schön dass du dich hier wohlfühlst." Er klang ehrlich erfreut. Aber das hier war seine Heimat. Und es war geradezu unvorstellbar für ihn, je woanders zu leben, nicht zuletzt wegen des Tempels.

"Ja, es ist der beste Ort der Welt." Eloy lächelte weich. "Das Meer, der Urwald, die Geräusche, die Gerüche..." Er sog die Luft tief in die Lungen und atmete bewusst langsam aus. Kein Vergleich mit den großen Städten, in denen er gelebt oder die er zumindest besucht hatte. Gegen die war selbst San Palabra ein verschlafenes Nest!
"Ich glaube nicht, dass ich noch einmal für länger von hier fortgehe. Ich habe genug gespart; und was hat man hier schon groß für Ausgaben?" Er zuckte mit den Achseln. Nie waren ihm seine Nachbarn, seine Bekannten, ja selbst diejenigen, die er als Freunde bezeichnet hatte, so nah gewesen wie diese Menschen hier. Ehrlich, hilfsbereit, wenn auch manchmal etwas stur oder verrückt - ein Paradies auf Erden mit eigenwilligen Engeln.
Und die Frauen hier waren - etwas Besonderes.

Miguels eh schon freundliches Gesicht hellte sich noch weiter auf, als er hörte, wie Eloy von der Gegend hier schwärmte. Zwar hatte er nichts damit zu tun, dass es hier so schön war, wie es war, aber ein bisschen mit Stolz erfüllte es ihn schon. Ob es der beste Ort der Welt war, konnte er natürlich überhaupt nicht beurteilen, schliesslich war er noch nie weiter gekommen als bis San Palabra. Aber verglichen damit war es definitiv besser. Und Miguel war zutiefst davon überzeugt, dass der Selenismus damit eine Menge zu tun hatte.

"Wenn du selbst fischen gehst? Wirklich fast keine", pflichtete Miguel ihm bei. Es musste schön sein, wenn man so wie Eloy frei und ungebunden in den Tag leben konnte. So etwas kannte er praktisch nicht. Er musterte ihn. "Vermisst du gar nichts aus der Stadt?"

Einen Moment schlich sich das Bild seiner Tochter und seiner Frau vor sein Auge. Vermisste er sie? War er ein schlechter Mensch, wenn dem nicht so war? War er ein schlechter Mensch, wenn ihm beim Gedanken daran, was er vermissen könnte, eher das kleine Bordell von San Palabra in den Sinn kam als das Gesicht seiners Kindes? Wollte er ein guter Mensch sein?
Nachdenklich runzelte er die Stirn. "Eigentlich so gut wie nichts. Die Zeitschriften und Bücher kann ich auch hier lesen; sie kommen nur mit etwas Verspätung. Ein Telefon braucht kein Mensch; es gibt nichts Schlimmeres, als dauernd erreichbar zu sein!" Abgesehen von den Vorwürfen, wenn man es einmal nicht gewesen war, weil man es nicht sein wollte. "Selbst die Gewürze, die ich zum Kochen brauche, bekomme ich hier, wenn ich sie bestelle. Wenn überhaupt - wenn überhaupt, dann vermisse ich ein Schwimmbad. Früher bin ich morgens gern schwimmen gegangen, aber in einem gechlorten Becken, nicht im Salzwasser."