Die Wege und Straßen des Dorfs sind unbefestigt. Auf dem sandigen, leicht rötlichen Boden wachsen Gras und Unkraut, und dort, wo sich bei Regen der Weg in einen Sturzbach verwandelt, werden manchmal ein paar größere Steine als Wegplatten benutzt.
Vereinzelte Bäume - meist Palmen - spenden Schatten und laden auch mal zu einem Nickerchen ein. Findlinge, leere Fässer oder Kisten oder auch einmal ein Baumstamm können als Behelfsbänke benutzt werden, wenn man sich nicht gerade auf den Zaun eines Anliegers setzen möchte.
Es war ein gutes Gefühl, wie der Sand unter den bloßen Sohlen immer mehr wich und dem festeren Erdboden Platz einräumte. Eloy beschloss, die Sandalen erst später anzuziehen und sie noch eine Weile in der Hand zu tragen. Seine Füße waren es längst gewöhnt, eine Weile ohne den Schutz von Schuhen auszukommen. Er wäre zwar barfuß nie in den Dschungel gegangen, weil er dann dauernd befürchtete, auf eine Schlange oder eine giftige Spinne zu treten, aber im Dorf war man davor dann doch relativ sicher.
Er erkannte Rubena gleich. Ihre Hütte war nicht weit von seiner entfernt, sodass sie bald in dieselbe Richtung gehen würde, und da es doch nichts Unangenehmeres gab, als einem Bekannten schweigend zu folgen, hob Eloy grüßend die Hand mit den Sandalen. "Guten Morgen Rubena!", rief er ihr zu und beschleunigte seine Schritte ein wenig.
Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und hob es sich aus dem Nacken, damit die Morgenluft ihre feuchte Haut dort erreichen konnte. Sie liebte die frische, klare Luft am Morgen, bevor die drückende Hitze des Tages so richtig einsetzte. Wie ein letztes Aufatmen der Natur, bevor ein neuer Tag begann. So gesehen hatte sie gar nicht wirklich etwas dagegen, um diese Uhrzeit wach zu sein. Nur war sie es lieber SCHON, als NOCH.
Sie drehte sich in die Richtung der Stimme, als sie ihren Namen vernahm und winkte in Eloys Richtung. Bis er zu ihr aufgeschlossen hatte, wartete sie und begrüßte ihn mit einem etwas verschlafenen, aber nichts destotrotz freundlichen Lächeln. Schließlich waren sie Fast-Nachbarn. "Morgen. Dann bin ich also nicht die Einzige, die heute schon so früh wach ist." Sie deutete auf das Netz in Eloys Hand. "Warst du erfolgreich?"
"Nicht wirklich." Eloy hob das Netz etwas an, sodass Rubena besser erkennen konnte, wie wenig Fisch sich darin befand. "Die Hälfte habe ich wieder ins Wasser geworfen, weil sie so mickrig waren." Allerdings würde es für ihn alleine reichen; selbst wenn er den Fisch ausgenommen hatte, würde es genügen. "Aber ich möchte mich nicht beschweren. Ich habe schon schlechtere Tage gehabt."
Er grinste etwas schief. "Was ist mit dir? Du siehst eigentlich nicht aus, als wärest du schon wach, wenn ich das so sagen darf, ohne dass du es mir übel nimmst." Im Gegenteil: Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie in den letzten Stunden ein Auge zugemacht hatte.
Rubena beäugte das Netz etwas genauer und musste sich schon fast anstrengen, um den Fisch darin erkennen zu können. Drei oder vier Tiere sah sie, aber Eloy lebte ja auch allein, da würde das für ein Mittagessen genügen.
"Charmeur." Sie lachte auf. "Aber ja, du hast Recht. Es hat sich irgendwie alles länger hingezogen, als geplant. Und zu allem Überfluss gabs dann auch noch Schwierigkeiten mit dem Generator." Sie seufzte. "Jetzt freu ich mich einfach nur auf mein Bett." Und sie hoffte, dass Carlos auch noch für eine Weile in seinem bleiben würde.
"Das klingt nicht besonders gut." Besorgt runzelte er die Stirn, während er gemächlich neben Rubena her ging. Seine müden Beine würden ihm das Tempo danken, und er konnte sich nicht vorstellen, dass es seiner Beinahe-Nachbarin gerade nach einem Dauerlauf stand. "Macht dein Generator denn häufiger Probleme?"
Die Vorstellung, dass er ausfallen könnte, behagte Eloy nicht. Es würde Unruhe in den Ort bringen, und vor allem würde es bedeuten, dass das El Rubí dunkel bleiben würde oder auf Kerzen zurückgreifen müsste. Nicht, dass er keinen Abend ohne einen Besuch durchhalten würde - eigentlich ging er zwar gern, aber nur gelegentlich hinüber - aber wenn das El Rubí geschlossen hatte, würden die, die auf ihre abendliche Runde sehr wohl angewiesen waren, diese auf dem Dorfplatz abhalten oder unten bei den Booten - und egal, wo sie es waren, sie würden laut sein. Die Steinmauern hingegen dämpften den Lärm immer angenehm.
"Das ist es auch nicht." Sie wiegte ihren Kopf nachdenklich hin und her und überlegte, wann er das letzte Mal gestreikt hatte. "Nein, nicht allzu häufig. Aber wenn, dann richtig." Sie lächelte leicht gequält. "Dann stört es ihn auch nicht, mich die ganze Nacht wachzuhalten." Man könnte meinen sie hätte vor kurzem ein Baby bekommen und würde sich über das Kleine beschweren anstatt über eine Maschine zu sprechen. "Wenn Teo das nächste Mal da ist, bitte ich sie mal einen Blick draufzuwerfen." Wahrscheinlich fehlte nur Öl oder sowas, aber die Mechanikerin kannte sich einfach besser damit aus, als sie.
"Besser ist das." Eloy nickte zustimmend. Sicher würde irgendwer im Dorf auch in der Lage sein, ein paar Mal mit dem Schraubenschlüssel gegen den Generator zu klopfen - Santiago vielleicht -, aber ob er danach auch wieder schnurren würde wie ein Kätzchen? Eloy besuchte den Handelsposten nicht oft, wo die MS Caminante regelmäßig an- und ablegte, aber selbst bei seinen seltenen Besuchen hatte das Schiff oft genug länger als erwartet vor Anker gelegen, weil Teo den Motor auseinandernahm. Bisher hatte die Crew allerdings noch nie dort übernachten müssen. Und so weit war es ja auch nichts, dass Rubena Teo nicht dazu würde überreden können, sie nach Atempo zu begleiten. Den Steuermann der MS Caminante würde ein guter Tropfen locken, und über Zeitnot hatte die Crew eh noch nie geklagt.
"Wann erwartest du denn deine nächste Lieferung?" Irgendwie müsste Teo ja schließlich noch davon erfahren, dass sie in Atempo gebraucht wurde.
So als könnte sie am Horizont die MS Caminante sehen, ließ Rubena ihren Blick zum Meer wandern. Wenn sie das Wetter richtig einschätzte und alles so blieb, wie es die letzten Tage schon gewesen war - also kein plötzlicher Sturm aufzog oder ähnliches - dann würde es sicher nicht mehr lange Dauern, bis das kleine Lastschiff wieder am Handelsposten anlegte. "Ich denke in wenigen Tagen wird sie wieder da sein." Sie hielt ihre Hand vor den Mund um ein Gähnen zu verstecken. "Ich hoffe nur, Garcia informiert mich rechtzeitig, damit ich Teo dann noch erwische um sie zu überreden, mit nach Atempo zu kommen." Wenn das Timing stimmte war das allerdings nichts, was allzu schwer sein sollte.
Ruby fielen inzwischen wirklich fast die Augen zu und sie schaute entschuldigend zu Eloy auf. "Nimms mir nicht übel, wenn ich dich jetzt hier so stehen lasse, aber ich bin kurz davor mich einfach auf den Weg zu legen um zu schlafen." Sie lächelte müde. "Wir sehen uns?"
Nachdem Eloy sich verabschiedet hatte wandte Rubena sich in Richtung ihres nahen Hauses. Sie fragte sich, wie lange sie wohl schlafen musste, damit sie wieder komplett munter und zurechnungsfähig wäre.
Eloy lächelte matt. Je nachdem, was Rubena erwartete, würde es ihn nicht wundern, wenn der Vogel nichts verlauten ließ. "Bring doch einen Zettel zu ihm hin und bitte ihn, den Teo zu geben. Vielleicht kommt sie dann von alleine." Wobei er den Zettel ja eher Garcias Frau anvertrauen würde..
Nachsichtig nickte er. Dass Rubena im Laufen beinahe einschlief, war ja nicht zu übersehen. "Schlaf gut. Wir sehen uns bestimmt." Immerhin wohnten sie ja beinahe nebeneinander, und solange es noch nicht so heiß war, würde er sich wohl vor seine Hütte setzen, um die Fische auszunehmen. Da wurde er auch gleich die Fischabfälle los - irgendein Vogel wollte sie ihm immer abnehmen.
Der Sand knirschte unter den Sohlen seiner Sandalen, während Eloy sich auf den Weg zur Dorfmitte machte. Obwohl noch nicht viel Zeit vergangen war, seit er sein Boot auf den Strand gehievt hatte, waren die Temperaturen schon deutlich gestiegen, und sobald er aus dem Schatten eines Baumes heraustrat, dachte er sehnsüchtig an den Schatten seines Strandkorbs. Eine andere Sehnsucht war allerdings wesentlich stärker. Ob es wirklich schon Zeit war? Eloys Armbanduhr lag in einer Schublade in seiner Hütte, er trugt sie nur bei seinen selten gewordenen Besuchen in San Palabra. Allerdings hörte er erstes Kindergeschrei - das Dorf erwachte zum Leben, und das hieß, dass es sogar höchste Zeit war, wenn er noch halbwegs ungesehen das Schulhaus erreichen wollte. Eloy versuchte, trödelnd auszusehen, obwohl er sich beeilte. Er musste aber einen Haken hier, einen Umweg da einschlagen, grüßte freundlich, sobald ihm jemand begegnete oder vor seiner Hütte saß, und zerbrach sich den Kopf, was er antworten sollte, wenn ihn jemand fragte, wohin er ging. Vielleicht, dass er was im Boot vergessen hatte. Oder einen Spaziergang machte. Dass er sich mit Mara traf... niemand hätte dafür Verständnis.
Mit hinter sich her flackerndem Shirt fuhr Scott in das Dorf hinein. Er hatte Pech gehabt, er hatte weder Ruby zuhause angetroffen noch in der Bar. Dann würde er sich eben hier die Zeit vertreiben. Scott stieg vom Fahrrad herunter und nahm mit einem Grinsen seine staubbedeckte Hose wahr. Es war trocken, verdammt trocken. Mit wenigen Handgriffen schloss er sein Rad an den nächstbesten Zaun an, zupfte sein Cap von der Stirn und rieb sich einmal mit dem Oberarm über die Stirn. Und verdammt heiß. Ob er in den Dschungel fahren sollte? Aber wenn Garcia ihn sehen sollte und er immer noch keine Bescheinigung hatte, würde er ihm sicherlich sein letztes Hemd abknöpfen. Nein. Das würde er sich für später aufschieben. Stattdessen bückte sich Scott zu seinem Fahrrad herunter und pulte ein paar Steine aus den Mountainbikereifen heraus, die sich innerhalb des Profils verkantet hatten.
Es war spürbar heißer geworden, seit er das Schulgebäude betreten hatte. Dennoch lief es Eloy unangenehm kalt über den Rücken, als ihm bewusst wurde, dass ja gerade in den noch kühleren Morgenstunden viele Dorfbewohner unterwegs waren. Für ihr nächstes Stelldichein mussten sie sich wieder einen anderen Ort, eine andere Zeit auswählen. Wenn nun wirklich jemand an den Computer gewollt hätte? Er fuhr sich durchs Haar, das zum Glück meistens nicht sehr frisiert aussah und keine verräterischen Signale senden sollte. Ob seine Haut noch nach Mara roch? Und ob irgendwer abgesehen von ihm diesen Geruch identifizieren konnte? Eloy lächelte versonnen, blieb dann aber stehen, als er wenige Meter vor ihm jemandem an einem Fahrrad herumhantieren sah. Diese Neue war das, die Aushilfe bei Ruby.. Er hatte sich noch nie wirklich mit ihm unterhalten, wusste nur, dass er Scott hieß - und offenbar war er ein Fahrradfan. "Das ist ein ungewöhnlicher Anblick hier draußen", sagte Eloy und ging neugierig näher.
Scott sah auf, als er aus dem blauen Himmel heraus angesprochen wurde, und grinste Eloy freundlich an. Er hatte ihn schon einmal gesehen, wahrscheinlich bei Ruby in der Bar oder auf der Straße. Sonderlich viele Menschen gab es hier nun nicht. Er lachte, während er sich aufrichtet: "Dass jemand in dieser brütenden Hitze draußen ist und sich nicht zu einer Siesta in die vier Wände begeben hat?" Scott fuhr nochmal mit seinem Unterarm über die Stirn, ehe er sein Cap wieder aufsetzte, ein paar Schritte auf Eloy zumachte und ihm seine Hand entgegenstreckte, ohne zu registrieren, wie staubig verschwitzt die eigentlich von den letzten Stunden ohne Wasser war. "Scott.. Mitchell."