Der kleine Platz, der an die Piers der Fischerboote grenzt, wird jeden Vormittag - außer sonntags - zum Marktplatz, auf dem der frische Fang unter die Leute gebracht wird. Privatkunden finden sich dabei genauso ein wie Händler oder die Köche von Restaurants. Nur die Fischkonservenfabrik bekommt ihre Waren geliefert.
Auf der den Piers gegenüberliegenden Seite des Platzes finden sich neben einer Hafenkneipe auch ein Schnellimbiss, dessen Karte kein einziges Fischgericht enthält, sowie eine Kaffeebude, die sowohl Fischer wie auch Käufer mit Koffein und Schmalzkringeln versorgt.
Ist der Markt beendet, wird es stiller auf dem Platz, auch wenn sich Möwen und streunende Katzen um übrig gebliebende Fischreste zanken. Bis zum nächsten Marktmorgen ist abgesehen von den Fischern, die ihre Boote beladen oder zum Auslaufen bereit machen, kaum jemand in diesem Hafenbereich unterwegs. Allerdings leben in San Palabra viele Fischer.
Als sie heute Morgen feststellen musste, dass sie zu spät fürs Frühstück dran war, war ihre Laune nicht gerade beflügelt worden. Um so strahlender schien das Lächeln, das sie auf dem Gesicht trug nun, da sie mit einem Pappbecher voll heißem, starkem, süßem Kaffee in der Hand an der kleinen Bude auf dem Fischmarkt stand.
Ihr Tag war gerettet. Nun hoffte sie nur noch, dass der Kahn, bei dem ihr Dad gerade am Pier stand, nur das Zubringerschiff zum eigentlichen Vehikel sein würde, das sie dann dahin brachte, wohin auch immer sie mussten. Klar, anders konnte das ja gar nicht sein. Sie würde gleich rüber gehen und ihn danach fragen. Aber erstmal blieb sie hier stehen, genoss die langsam wärmer werdende Luft und trank in aller Ruhe ihren Kaffee. Den fischigen Geruch, den so ein Fischmarkt mit sich brachte, ignorierte sie dabei einfach. Das funktionierte - wenn man sich den Kaffeebecher nur dicht genug unter die Nase hielt - sehr gut. Jetzt musste sie sich nur noch überlegen, ob sich zu ihrem Kaffee noch so ein lecker aussehender Schmalzkringel gesellen sollte oder nicht.
Besonders weit musste Sébastien auf seiner Kaffee-Expedition nicht gehen. Bereits kurz nachdem er sich vom Pier entfernt hatte, entdeckte er den Platz mit den kleinen Gebäuden. Und noch bevor er den Kaffee roch, sah er die schlanke, blonde Gestalt von Williams' Tochter mit einem dampfenden Pappbecher in der Hand. Amber und er waren sich in vielen Dingen nicht unähnlich, soviel hatte er schon mitbekommen. Sie achtete auf ihr Äusseres, sie war gewohnt zu bekommen, was sie wollte. Und sie studierte dasselbe - auch wenn er sich nicht so sicher war, ob sie es aus ehrlichem Interesse tat, oder weil ihr Vater sie dazu überredet hatte, oder sie ihm gefallen wollte. Ach ja, und sie sah gut aus, so wie er auch.
"Salut", begrüsste er sie, als er nur noch ein paar Meter von ihr entfernt war. "Du hast bereits gefunden, was ich suche...", erklärte er mit einem Blick auf den Kaffee und die Bude hinter ihr. Aber das war es schliesslich auch, was Archäologen auszeichnete: sie fanden Dinge. Okay, zugegebenermassen selten so schnell. "Ist er geniessbar?" erkundigte er sich und rückte mit dem Kopf kurz näher an den Pappbecher ran, um den Kaffeeduft zu prüfen. Roch nicht schlecht. "Dein Vater und Signora Bueno sind bereits am Pier und inspizieren unser Boot." Er lächelte schief. "Bueno sieht aus, als ob nur der Gedanke daran, damit aufs Wasser zu gehen, sie bereits seekrank macht..."
Ein 'Salut!' das in ihre Richtung gerufen wurde - und das ihr bekannt vorkam - unterbrach ihr Sinnieren über Schmalzkringel abrupt. War wahrscheinlich auch besser so für ihre schlanke Linie. Und auch, falls es ihr auf dem Kahn gleich übel werden sollte.
"Hola, Sébastien." erwiderte sie in dessen Richtung. "Das hier meinst du?" sie deutete mit ihrer freien Hand auf das Gefäß in der Anderen und runzelte ein wenig die Stirn, als Sébastien sich gefährlich nah an ihren Kaffee heranbeugte um daran zu schnuppern. Einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie ihm einfach ihren Becher überlassen sollte und sich einen neuen holte. Aber nein, dazu war der hier viel zu gut. Genau perfekt gesüßt und er hatte die richtige Farbe. Sie überging das einfach und nickte nur auf seine Frage nach der Genießbarkeit.
"Ich kanns ihr ehrlich gesagt nicht verübeln." Sie warf einen kurzen Blick zum Pier und insbesondere zu dem ältlichen Boot. "Bis eben hatte ich gehofft, das wäre nicht unseres." Amber verzog ein wenig ihr Gesicht um ihre Abscheu zu verdeutlichen. Aber es war wohl nicht zu ändern, wenn ihr Vater dieses... Ding... schon gemietet hatte. Sie hoffte einmal mehr, dass ihr nicht schlecht wurde. So wie das aussah, würde die Fahrt wohl sehr wackelig werden.
"Voilà", bestätigte Sébastien, dass es ihm tatsächlich um das heisse Getränk in ihrer Hand ging, mit dem sie in der Tat durchaus zufrieden schien. Befriedigt bewegte er sich ein paar Schritte weiter in Richtung der Bude und orderte in stark französisch eingefärbtem Spanisch drei Kaffees. Wie war das gewesen, Bueno wollte ihren schwarz? Während der Zubereitung, wendete er sich Amber zu, die dem Kahn offenbar auch nicht eben zugeneigt war - und das, obwohl sie in erst aus dieser Distanz gesehen hatte.
Er grinste. "Es ist unseres. Dein Vater hat wie meistens erlesenen Geschmack bewiesen." Eine klare Anspielung auch auf dessen übliche Bekleidung. "Am fehlenden Geld liegts jedenfalls nicht", versicherte er. Sébastiens Familie hatte auf sein Drängen hin einen substanziellen Betrag für diese Expedition locker gemacht. "Vermutlich will der Professor das Kapital anderswo einsetzen..." Wobei, wo das passieren sollte, konnte sich Sébastien nicht so richtig vorstellen.
Inzwischen war die Kaffees bereit. Er schob das Geld rüber und griff sich einen der drei, blies vorsichtig über die Flüssigkeit und setzte sie dann an die Lippen. Nach zwei, drei Schluck machte sich ein wohliges Gefühl in seinem Körper breit. Der Franzose gab ein zufriedenes Seufzen von sich und musterte dann Amber. "Und, dein Vater dich also überzeugen können mitzukommen, hm?"
Amber blickte ihm über die Schulter, als er drei Kaffee orderte und kurz überlegte. "Ist einer davon für meinen Dad? Der trinkt ihn auch schwarz", bot sie helfend an.
Sein Grinsen beruhigte sie nicht im Geringsten. Ihr Vater und Geschmack? Das kommentierte sie besser nicht. "Aus der Nähe sieht es besser aus, oder?...Das Boot meine ich." Dass er ihr versicherte, dass es nicht am Geld liegen würde, nahm Amber mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis. "Vielleicht hoffen sie, dass es da noch mehr Geld gibt, wo das für das Boot herkommt. Und wenn wir erstmal im Wasser treiben, haben die alle Zeit der Welt um unser Handgepäck zu durchsuchen." Ihr schauderte, denn so eine abwegige Idee schien ihr das gar nicht zu sein.
Sie nahm einen Schluck Kaffee, warf den Schmalzkringeln hinter der Kaffeeverkäuferin einen letzten Blick zu und griff nach einem der beiden Kaffeebecher auf der Verkaufstheke nachdem Geld und Getränk die Besitzer gewechselt hatten. "Wir sollten sie ihnen bringen, bevor sie kalt werden." Nicht, dass kalte Getränke hier nicht passend wären - wo es doch in Kürze richtig heiß werden würde. Aber kalter Kaffee? Lieber nicht. Ihr Dad mit schlechter Laune war nicht unbedingt angenehme Gesellschaft.
"Nimmst du den anderen Becher?" Sie setzte sich langsam in Bewegung in Richtung Pier. "Jepp. Seine Überredungskunst plus meine noch fehlende Semesterarbeit gleich Wackelkahn." Sozusagen. "Und was ist deine Ausrede?"
Er nickte. Schwarzer Kaffee, das passte zu Williams. Sébastien bevorzugte seinen mit reichlich Milch und Zucker und kippte beides in seinen Becher, bevor er die ersten Schlucke nahm.
"Oh ja, absolut", bestätigte er dann Ambers Hoffnung, dass der Kahn aus der Nähe besser aussehen könnte. "Man sieht die Spuren des hohen Alters noch viel deutlicher..." Ihre darauf folgende Angstfantasie quittierte er mit einem trockenen Lachen. Wie würde das erst werden, wenn sich Mademoiselle dem Dschungelleben gegenüber sah, das unweigerlich nach der Bootsfahrt folgen würde? Einmal mehr fragte er sich, wie Williams es geschafft hatte, seine Tochter von diesem Trip zu überzeugen.
"Mais oui, du hast Recht. Dein Vater mag keinen kalten Kaffee." Aber wer mochte den schon. Er griff sich Buenos Becher und schloss sich Amber an, die sich Richtung Pier auf den Weg machte und dabei nun erzählte, was ihr Motiv war mitzukommen. Eine fehlende Semesterarbeit also. "Ah", machte Sébastien, der schon ahnte, dass es möglicherweise nicht ganz leicht werden könnte mit Amber. Er warf ihr einen Seitenblick zu. "Keine Ausrede, ich bin ehrlich interessiert am Ziel unserer Expedition..." Wäre er das nicht, wäre er nicht hier. Fehlende Semesterarbeiten waren kein Grund etwas zu tun, das keinen Spass machte. Dann lieber ein neues Studium anfangen... so zumindest hatte er es bisher gehandhabt. "Und ich bin überzeugt davon, dass dein Vater recht hat mit seiner Theorie."