Pier für kleinere Transport- und Passagierschiffe

Mercedes überprüfte sicher bereits zum vierten Mal innerhalb der letzten Stunde, ob ihr Gepäck auch vollständig war. Der Stoff der Hose kratzte, und sie hatte das Gefühl, dass ihre Füße gerade in dem Schuhwerk erstickten, aber ansonsten breitete sich angenehme Nervosität und Vorfreude in ihrer Magengrube aus. Endlich ging es los!
Etwas skeptisch blickte sie noch herüber zu dem, was man ihnen vollmundig als "Schiff" angepriesen hatte. Nicht, dass sie etwas davon verstand, aber es sah ihr doch sehr deutlich eher nach Schabracke aus denn nach Schiff. Mercedes atmete tief durch. Zumindest würde die Reise nicht zulange dauern.
Sie presste ihre Reisetasche, die von den ganzen Büchern schwer wie ein Zentnersack geworden war, gegen ihren Bauch, unterdrückte den Wunsch, nach einer Mücke zu schlagen, und ging stattdessen zu Prof. Williams. "Sie sind aber sicher, dass das da unser Schiff ist, ja? Und kein Studentenscherz oder so etwas?" Beinahe hoffnungsvoll blickte sie zu ihm hinauf. Ihre Bücher waren zu kostbar, um im Meer zu versinken!

Ray betrachtete in diesem Moment nicht weniger zweifelnd die MS Caminante. Dass sie nicht die neueste sein würde, war ihm klar gewesen, aber das, was er gerade sah und was friedlich im seichten, schlammigen Wasser des Piers dümpelte, machte eher den Eindruck bereits ausgemustert zu sein. Ein Einbaum wäre vertrauenserweckender als das ... aber diese Gedanken würde er sich jetzt nicht anmerken lassen, das wäre ja fast sowas wie einen Fehler eingestehen und das schon zu Beginn. Das kam schlicht nicht in Frage.

"Wenn ich die Buchstaben da gerade richtig aneinander reihe ... CAMINANTE, dann würde ich sagen, ja ... das ist unser Schiff. Haben sie einen Luxusliner erwartet?"

Er zwinkerte der Mittdreissigerin zu, die ihre Tasche gerade hielt als bestünde Gefahr, dass in einer Ecke wie dieser jemand unterwegs war, der Bücher stehlen könnte.
Naja, vielleicht nicht ganz unberechtigt, wenn dem Ding da vorn der Diesel ausging, konnte man es vielleicht noch mit Kohle betreiben und wenn die ausging mit allem anderen brennbaren.

Sébastien hatte sich mit einem Taxi zum Hafen fahren lassen. Er war in der Nacht davor sehr spät direkt aus Paris angekommen und hatte sich im nächstbesten Hotel einquartiert. Eine ziemliche Absteige war das gewesen, aber er hatte nicht den Nerv gehabt, sich noch gross was Besseres zu suchen. Nach gerade mal fünf Stunden Schlaf hatte er sich bereits wieder auf den Weg machen müssen. In den zwei Jahren bei Professor Raymond Williams hatte er gelernt, dass dieser Unpünktlichkeit gar nicht zu schätzen wusste.

So entstieg der junge Mann ziemlich genau in dem Moment seinem Taxi, als Williams und Bueno jenen Kahn beäugten, der in den kommenden Tagen ihre Operationsbasis sein würde. Er schwang sich seine Reisetasche über die Schulter, zahlte den Chauffeur und marschierte rüber zu den beiden und der MS Caminante. "Bonjour, mes amis", begrüsste er sie ziemlich unformell mit einem freundlichen Lächeln. Sein Blick streifte das wenig vertrauenserweckend aussehende Boot und wanderte über Buenos Gesicht schliesslich zu Williams. "Und ich dachte, ich sei der Letzte", kommentierte er die Tatsache, dass sie drei die einzigen waren, die sich bisher eingefunden hatten. Er liess die Tasche zu Boden gleiten. "Das heisst ich habe noch Zeit für einen Café, oder?" Er sah sich um, ob es am Hafen irgendwas gab, das so aussah, wie wenn er das dort kriegen würde.

"Ich hatte zumindest etwas erwartet, was der Bezeichnung 'Schiff' nahekommt." Argwöhnisch kräuselte sich Mercedes' Oberlippe, und langsam ließ sie die Tasche zu Boden gleiten, wobei sie unwillkürlich den Fuß zur Seite nahm, ehe sich der Boden der Tasche auf ihren Schuh setzen konnte. "Aber ich fürchte, wir können nicht allzu wählerisch sein", fügte sie seufzend hinzu.
Ihr Kopf wandte sich, als sie Sébastien näherkommen hörte, und sie nickte ihm zu. "Guten Morgen." Wenigstens einer mehr, der schon den Weg zum Hafen gefunden hatte. Je eher sie diesen schwimmenden Sarg betreten würden, umso eher könnten sie ihn doch sicher auch wieder verlassen!
"Glauben Sie wirklich, Sie können hier einen Kaffee finden?" Zweifelnd rieb sie sich die leicht schmerzende Hand an ihrer Hose ab, in die sich zuvor noch der Riemen der Tasche gegraben hatte. Oh, sie vermisste Primera! Da war es nicht so warm, nicht so windig, und dort hätte sie auch gewusst, dass es tatsächlich Kaffee in der Nähe gegeben hätte!

Sebastien kam Ray gerade recht. Er wandte den Blick von Senorita Bueno zu dem Franzosen, der mit seiner Ankunft augenblicklich vom Thema ablenkte.
Cafe war aber auch ein gutes Stichwort. Ray hatte heute morgen ganz klar zu wenig davon gehabt.

"Guten Tag, schön dass sie hergefunden haben", begrüßte er Lemaitre und ging ihm ein paar Schritte entgegen.
Die zwei grundverschiedenen Männer, der adrette Student und der Professor, der gerade jetzt eine abgewetzte Jeans und ein Khaki-Hemd mit kurzen Ärmeln trug, boten zweifellos ein seltsames Bild für jeden allfälligen Beobachter.

Während er dem Neuankömmling die Hand reichte, murmelte Raymond: Für einen Kaffee könnte ich morden, aber ich schätze, ich kann mich der 'Schatz'suche nicht anschließen. Jedenfalls nicht bevor ich mit dem Kapitän gesprochen habe. Versuchen sie ruhig derweil ihr Glück und wenn sie fündig werden, schwenken sie eine Fahne.

Sébastiens Mund verzog sich zu einem Grinsen angesichts Buenos Kommentar zu ihrem schwimmenden Untersatz. "Immerhin besser als ein Floss oder ein Ruderboot. Guten Morgen", erwiderte er den Gruss. Der Franzose war zwar an Luxus gewöhnt, fand jedoch, dass der Kahn dem leicht abenteuerlichen Geist bestens entsprach, der diese ganze Expedition umwehte. Auch wenn seine makellose Kleidung zweifelsohne nicht wirklich zum Schiffsdesign passte. Die des Professors schon viel eher.

Er ergriff Williams' ausgestreckte Hand und drückte sie fest. "Der Taxifahrer hat hergefunden...", kommentierte er. Die Kaffee-Idee schien jedenfalls bei beiden auf Anklang zu stossen. "Ich bin zuversichtlich, wir befinden uns immerhin in Südamerika. Der Café wird nicht so gut sein wie in Paris, natürlich...", fügte er mit einem leichten Schulterzucken an, das andeutete, dass selbstredend weniges auf der Welt so gut war wie in Paris. "Aber ich werde Ihnen beiden einen mitbringen, sobald ich fündig geworden bin." Er schob seine Tasche zu Buenos, davon ausgehend, dass sie ein Auge darauf haben würde. Dann nickte er den beiden zu und machte sich auf die Suche.

tbc San Palabra / Fischmarkt

"Natürlich", bemerkte Mercedes trocken und hob skeptisch die Brauen. "Paris ist ja auch geradezu bekannt für seine Kaffeeplantagen." Diese Europäer hatten einfach noch nie begriffen, was richtiger Kaffee war. Andererseits wäre es doch reichlich dumm, das Angebot eines Kaffees abzuschlagen. "Für mich schwarz!", rief sie Lemaitre hinterher und stieg über dessen Reisetasche hinweg. Herrje, da konnte man sich ja alle Knochen brechen, wenn man nicht aufpasste!

Sie zwang sich, ihre Gedanken von der Fahrtüchtigkeit des Caminante loszueisen. "Wollte Ihre Tochter uns nicht begleiten?", erkundigte sie sich stattdessen krampfhaft um ein Smalltalk-Thema bemüht an Williams. Sie hätte ja erwartet, dass sie bereits hier wäre. Allerdings hatte sie das von ihren eigenen Schützlingen ebenfalls getan, und entweder war sie noch zeitiger hier, als sie geglaubt hatte, oder die anderen verspäteten sich.

Mercedes letzten Satz bezüglich der Caminante hatte Raymond bewusst ohne weitere Kommentare hingenommen. Er konnte sich allerdings ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen als Sebastien den Floss und Ruderbootvergleich brachte, der nicht wirklich weit von seinem eigenen Einbaumgedanken lag.

"Für mich bitte auch ... schwarz", schickte er dem Kaffeespender nach und hob reflexartig den Arm etwas um Mercedes bei ihrer Kletterübung notfalls abzustützen. Natürlich war das nicht notwendig und er liess ihn sogleich auch wieder sinken, war nun aber voll auf sie konzentriert und sah sie an.

"Sie sollte eigentlich längst hier sein. Wie alle eigentlich längst hier sein sollten." Da schwang schon deutliches Missfallen in seiner Stimme mit. Nicht etwa weil es bei einer Expedition, die Monate dauern würde auf Minuten ankam, sondern weil er jedesmal wieder, wenn es losging von einer fast kindlichen Spannung getrieben war und es schlicht nicht erwarten konnte.

Noch so ein Nachteil an außer-universitären Unternehmungen: Es gab keine verlässlichen Anfangszeiten für sie, keine Tür, die man als Zeichen dafür, dass man beginnen wollte, schließen konnte, kein Licht, das es zu löschen galt, damit man die an die Wand geworfenen Folien besser erkennen konnte.

"Vielleicht ist das ein schlechtes Zeichen, ein Omen dafür, dass wir noch nicht bereit sind, den Ort", sie warf Williams einen bedeutungsvollen Blick zu, der die Worte 'Sie wissen schon, welchen Ort ich meine' nahezu in Großbuchstaben trug, "zu finden. Das Lied ist schließlich nicht all zu genau in seinen Anweisungen, und auch, wenn Ihre und meine Hinweise so ausgezeichnet zu passen schienen..." Mercedes verstummte. Statt einen Spaß zu machen, war ihre größte Angst über ihre Lippen gekommen. Was, wenn sie sich irrten? Was, wenn sie sich irrte? Wenn das hier zu einem Fiasko wurde, dass ihre Karriere nicht beschleunigen, sondern beenden würde?

Schlechtes Omen? Nah ... Schlechte Omen vertrugen sich nicht mit Wissenschaft.
"Ich vermute eher, dass sich das feuchtwarme Klima ein bisschen negativ auf die eine oder andere innere Uhr auswirkt."
So wie er Amber kannte, war das sogar sehr unmittelbar der Grund.

Half aber alles nichts, Ray drehte den Kopf erst nach rechts, dann nach links und scannte so die Umgebung ab. Doch außer dem sich immer noch entfernenden Lemaitre, war niemand in Sicht. Jedenfalls nicht aus seinem Blickwinkel.

"Wie war denn ihr Morgen? Konnten sie überhaupt schlafen?"

Oder war er gerade unhöflich gewesen, so gar nicht auf die Böses Omen-Theorie eingegangen zu sein? Etwas nachdenklich, kratzte er sich am Kinn. "Das mit dem Omen war ja hoffentlich nicht ernst gemeint, hm?"

"Nein, natürlich nicht." Mercedes lachte, auch wenn es in ihren eigenen Ohren schon gekünstelt klang. Viele Geschichten und alte Erzählungen rankten sich um Omen, und auch, wenn sie vor allem dazu neigte, die Geschichten in ihre Einzelheiten zu zerlegen, die Bilder zu entschleiern und nach der wahren Bedeutung zu graben, so wie Schliemann es nach den Mauern Trojas getan hatte - allerdings ohne den Dreck und den Schweiß - so gab es ja vielleicht doch einen Funken Wahrheit hinter all dem Okkultismus. Es musste doch einen großen Plan geben, und war es dann nicht auch möglich, dass einem Zeichen dabei halfen, ihn zu enthüllen? Mercedes beschloss, lieber rasch auf die andere Frage einzugehen.

"Ich habe eigentlich recht gut geschlafen. Ein bisschen wirr geträumt, womöglich..." Mercedes winkte ab und mühte sich um ein zuversichtliches Lächeln. "Ich schreibe es der Nervosität zu." Nicht, dass sie davon ausging, dass der Tempel gleich dort auf sie wartete, wo dieses.. naja: Schiff sie hinbrächte, aber wenn sie von Bord ging, weil Gott es so wollte, würde sie ihrem Ziel schon erheblich näher sein als jemals zuvor in ihrem Leben!

cf: Fischmarkt

Sébastien war neben Amber herspaziert, zurück zum Pier, an dem sich in den paar Minuten nicht viel verändert hatte. Williams und Bueno waren noch immer nur zu zweit, der Kahn sah noch nicht viel besser aus als vorher, und von der Besatzung schien auch niemand in Sicht. Nun denn. Immerhin hatten sie Kaffee, und damit sah gleich alles viel besser aus.

Er hörte gerade noch Buenos letzte Sätze von wegen wirren Träumen. "Das ist die Aufregung, nichts als die Aufregung, Senora", sagte er und hielt ihr ihren Kaffee hin. "Einmal schwarz." Er sah zu Williams, dessen Kaffee Amber in der Hand hielt. "Ganz ohne Mord und erstaunlich geniessbar." Um diese Worte noch zu unterstreichen, nahm er einen grossen Schluck aus seinem eigenen Becher. "Eh bien", er streckte sich und sah den Professor an. "Wo bleiben die anderen? Und sollte dieses... Schiff nicht eine Crew haben?"

cf: Fischmarkt

Toll, dachte sie auf seine Bemerkung bezüglich des Bootes hin. Sie freute sich schon darauf endlich GENAUER zu sehen, was daran alles im Argen lag. Ich hoffe er hat auch mit seiner Theorie Recht, dass dieses Boot dort uns alle trägt. Schließlich waren die Handvoll Personen die bisher am Pier warteten noch nicht alle Mitreisenden.

"Morgen, Paps." Sie grinste ihren Vater an und legte die letzten Meter zu ihm zurück. Den Becher mit dem schwarzen Kaffee reichte sie ihm und wandte sich dann der Frau neben ihm zu um auch ihr einen guten Morgen zu wünschen. Die Umhängetasche, die sie die ganze Zeit über der Schulter getragen hatte, stellte sie zu ihren Füßen ab um sich erstmal wieder einen Schluck ihres eigenen Heißgetränks zu gönnen während Sébastien redete.